Auf den Punkt genau: Materialfluss-Simulation

  • Eine effektive Implementierung der Lean Production erfordert Adaptionen der bekannten Methoden.
  • Die Auswirkungen der Restrukturierung sind in einem solch komplexen Produktionsumfeld allerdings nur schwer zu überschauen.
  • Um diese Unsicherheiten bereits in der Planung zu reduzieren, empfiehlt sich die individuelle Nachbildung des restrukturierten Materialflussmodels in einem Simulationsmodell.
  • Die Simulation bietet einen Mehrwert in Konzeption, Validierung und Ausgestaltung schlanker Materialflusskonzepte und dies umso mehr, je komplexer der Untersuchungsgegenstand ist.

Um diese Chancen nutzen zu können, ist es jedoch erforderlich, den Erfordernissen des Marktes Rechnung zu tragen. Länderspezifische Verpackungsaufmachungen sowie die wachsende Diversifikation des Produktportfolios lässt die Produktpalette auf SKU-Ebene (Stock Keeping Unit) stark ansteigen. Der Bereich der pharmazeutischen Konfektionierung muss somit immer kleinere Chargengrößen kundenindividuell verpacken und darf dabei die Kosten nie aus den Augen verlieren. Diesen Anforderungen sind die produzierenden Pharmaunternehmen vielfach nicht gewachsen. Noch immer wird häufig eine Push-Produktion auf Basis von Langfristprognosen praktiziert, die sich in hohen Beständen auf Fertigwarenebene äußert. Neben den mit hohen Beständen einhergehenden Kapitalbindungskosten und langen Durchlaufzeiten besteht die Gefahr, dass Chargen von nachfrageschwachen Produkten wegen Überschreiten der Mindesthaltbarkeitsdaten entsorgt werden müssen.

Produktionsprozesse marktgerecht justieren

Das Argument, die Marktversorgung gewährleisten zu müssen, verdeckt in Wahrheit oft die mangelnde Flexibilität und Fehleranfälligkeit der Produktionsprozesse. So werden innerhalb der Produktionskette Pufferbestände überdimensioniert, um eventuellen Maschinenausfällen und sonstigen Unwägbarkeiten der Produktion vorzubeugen. Erschwerend hinzu kommt ein variables Routing über redundante Produktionsaggregate, so dass der Produktionsfluss stark eingeschränkt wird.

Je mehr es gelingt, die Produktionsprozesse auf eine flexible und gleichzeitig marktnahe, d.h. durchlaufzeitminimierende, Kundenversorgung einzustellen, desto eher kann auf überhöhte Pufferbestände verzichtet und die Abhängigkeit von häufig mit erheblichen Unsicherheiten behafteten Langfristprognosen reduziert werden. Im Idealfall folgt die Produktion dem Prinzip einer ziehenden Produktionssteuerung, dem sogenannten Pull-Prinzip, bei dem die Produktion erst vom konkreten Kundenauftrag angestoßen wird und ausgehend vom letzten Produktionsschritt die Fertigung der vorgelagerten Stufen initiiert wird.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, empfiehlt es sich, das in der Automobilindustrie angewandte Leitbild zur „Mass Customization“, also der Produktion kundenindividueller Produkte zu Kosten einer Massenfertigung, zu adaptieren. Grundlage ist der aus dem Toyota-Produktionssystem stammende Lean-Manufacturing-Ansatz, der seit Beginn der 90er Jahre die Fertigungsprozesse vieler diskret verarbeitender Industriezweige revolutioniert hat und heute vielfach unter dem Schlagwort „ganzheitliches Produktionssystem“ Anwendung findet. Die pharmazeutische Industrie handelt bei der Umsetzung dieser Maßnahmen jedoch zögerlich. Hemmschuh ist vor allem der grundlegende Unterschied zwischen der diskreten Produktion auf der einen und der pharmazeutischen Produktion auf der anderen Seite. Hierzu gehört beispielsweise der divergierende Materialfluss – aus einer Vorstufe werden mehrere Endprodukte gefertigt – im Gegensatz zum konvergierenden Materialfluss in einer klassischen Montagetätigkeit, bei dem mehrere Vorstufen in ein Endprodukt aggregiert werden. Die divergierende Produktion geht folglich mit einem starken Erhöhen der Variantenvielfalt in Richtung Fertigprodukt einher. Weiterhin sind regulatorische Rahmenbedingungen zu beachten, wie beispielsweise das Ausschließen von Kreuzkontaminationen bei Produktwechseln durch aufwendige Reinigungsprozesse. Zusammen ergibt sich ein hochkomplexes Produktionsumfeld, indem klassische Lean Tools wie die Wertstromanalyse mit Zettel und Stift kaum mehr zielführend durchzuführen sind.

Komplexität sicher handhaben

Eine effektive Implementierung der schlanken Produktion erfordert folglich Adaptionen der bekannten Methoden. Diese wurden zum Teil in der Fachliteratur bereits beschrieben. Es stellt sich jedoch oftmals die Frage, ob die Restrukturierung nach Lean-Methoden in einem so komplexen und oft von stochastischen Prozessen gekennzeichneten Produktionsumfeld überhaupt gangbar ist.

Die Problematik eines derartig tiefgreifenden Veränderungsprozesses ist, dass die Veränderungen in ihren Auswirkungen schwer überschaubar sind: Um diese Unsicherheiten bereits in der Planung zu reduzieren, empfiehlt sich die individuelle Nachbildung des restrukturierten Materialflussmodels in einem Simulationsmodell. Dieser Ansatz erlaubt eine detaillierte und quantitative Bewertung der Prozessveränderung vor der eigentlichen Umsetzung, so dass Auswirkungen für die Prozessbeteiligten im Vorfeld geklärt und unbegründete Vorbehalte ausgeräumt werden können.
Bei genauerer Betrachtung der Gegebenheiten in der pharmazeutischen Produktion gibt es eine Vielzahl von zeit- und zufallsabhängigen Systemgrößen sowie stark vernetzte Wirkzusammenhänge, bei denen deterministische Methoden und Modelle bei eingehender Untersuchung schnell an Grenzen hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit und Aussagequalität stoßen.
Mit Hilfe der Simulation kann das zeitliche Ablaufverhalten in einem komplexen technischen System untersucht und beurteilt werden. Dabei bietet die Simulation signifikante Vorteile:

Untersuchung real existierender Systeme ohne direkten Betriebseingriff (Reduktion der Risiken und Kosten);
Untersuchung alternativer Gestaltungsvarianten und Steuerungsstrategien;
Untersuchung des Systemverhaltens über lange Zeiträume hinweg (Zeitraffung);
Untersuchung von Anlaufvorgängen, Einschwingphasen und Übergängen zwischen definierten Betriebszuständen.

Das Ziel sollte sein, Modelle quantitativ bewertbar und experimentierfähig zu machen, wichtige Erkenntnisse zu gewinnen und somit Rückschlüsse auf das reale System zu ziehen.

Verständnis erhöhen, Vorbehalte überwinden

Ein nach Prinzipien der schlanken Produktion umstrukturiertes Materialflussmodell besitzt eine Reihe von alternativen Konfigurationsmöglichkeiten, deren Vorteilhaftigkeit sich durch die gegenseitige Einflussnahme einzelner Parameter schwer abschätzen lässt. Die Simulation hilft, das Verständnis über die Wirkmechanismen einzelner Materialflussprinzipien im Anwendungsfall zu erhöhen. Diese Erkenntnisse können dazu verwendet werden, Vorbehalte im Betrieb – zum Beispiel die Neigung von Prozessbetroffenen eher das lokale Optimum in ihrem Bereich zu suchen – zu überwinden und letztlich die Investitionsentscheidung abzusichern. In einem konkreten Anwendungsfall in der Pharma-Produktion haben die Abteilungen Produktionslogistik und Health Care Logistics am Fraunhofer IML in Dortmund die Simulation als Methode eingesetzt und die Auswirkungen der geplanten Lean Strategien untersucht und validiert.

Hierzu wurde folgendes Vorgehensmodell konzipiert und umgesetzt (Bild1): Mit dem Ziel, ein realitätsnahes Abbild des zu optimierenden Produktionssystems zu bilden, wurde zunächst die derzeitige Ist-Situation untersucht. Hierfür wurden die derzeitigen pharmazeutischen Abläufe im Produktionsbetrieb sowie die zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen aufgenommen und dokumentiert. Dieser Schritt ist essentiell, um wichtige Wirkzusammenhänge, Abhängigkeiten sowie Besonderheiten der Produktion zu verstehen. Parallel zur Prozessaufnahme wurden relevante Daten aufgenommen, aufbereitet und gemeinsam mit dem Auftraggeber abgestimmt, um einen angemessenen Detaillierungsgrad in dem Modell zu erreichen. Hierzu zählen Daten wie beispielsweise Stücklisten, Basisansatzgrößen, Hilfsmittel, Bearbeitungs-, Rüst-, Reinigungs- sowie Störungszeiten, Arbeitszeitmodelle und nicht zuletzt Absatzpläne. Auf Grundlage der Datenbasis (Vergangenheitsdaten) kann somit eine repräsentative Systemlast des Realsystems modelliert werden, wobei diese als die Menge aller Kundenaufträge verstanden wird, die vom Produktionsprozess bearbeitet werden müssen.

Betrachtungs- und Untersuchungsobjekt war der Produktionsprozess einer Solida-Produktion. Der Produktionsprozess besteht aus den drei sequenziell und unvertaktet ablaufenden Kernprozessen Granulierung, Tablettierung und Verpackung. In der länder- bzw. auch kundenspezifischen Verpackung, die aus den Prozessen der Verblisterung sowie der Sekundärverpackung – Faltschachtel inklusive Packungsbeilage – besteht, hat sich die Variantenvielfalt, verglichen mit dem ersten Prozess, um den Faktor 10 erhöht. Basierend auf der Prozess- und Datenanalyse wurden in der Phase „Lean Methodik“ nach den Leitlinien des Wertstromdesigns grobe Materialflussvarianten konzipiert.

Schnell und schlank zum Ziel

Oberste Zielsetzung beim Ausgestalten der Szenarien war die Reduktion der Auftragsdurchlaufzeiten und einer Bestandssenkung über alle Fertigungsprozesse. Für die Szenarienbildung wurden aus dem Instrumentarium der Lean Production die geeigneten Lean-Methoden zur Produktionsablaufsteuerung identifiziert. Zum Beispiel ist die Fifo-Rutsche als Steuerungselement zwischen zwei Prozessen ein Durchlaufpuffer, bei dem die Güter, die zuerst hineinlaufen, auch immer zuerst entnommen werden. Eine Alternative hierzu ist der Supermarkt, falls eine Fifo-Rutsche nicht ohne weiteres möglich ist. Dieser stellt ein Zwischenlager mit einer Pull-Steuerung dar. Die Güter der Vorstufe werden zur Entnahme bereitgestellt. Beim Unterschreiten eines definierten Mindestbestands wird ein Nachfüllprozess ausgelöst. Aus der Kombination dieser beiden Module ergeben sich schließlich vier grundlegende Variationen, den Materialfluss im Anwendungsfall zu steuern:

Granulation R Supermarkt R Tablettierung R Supermarkt R Verpackung
Granulation R Supermarkt R Tablettierung R Fifo-Rutsche R Verpackung
Granulation R Fifo-Rutsche R Tablettierung R Supermarkt R Verpackung
Granulation R Fifo-Rutsche R Tablettierung R Fifo-Rutsche R Verpackung

Die mit Ihren spezifischen Steuerungsmechanismen ausgestalteten Varianten wurden grob modelliert, simuliert und die Ergebnisse anschließend quantitativ bewertet. Entscheidende Leistungskennzahlen der Bewertung waren der Servicegrad (Terminerfüllung), die Kapitalbindung (Bestand) und die Durchlaufzeit. Um eine Vergleichbarkeit der Varianten zu erreichen, wurden ein Ausgangszustand für sämtliche Varianten definiert und die entsprechenden Parameterwerte festgesetzt, wie beispielsweise Ausfallwahrscheinlichkeit einer Maschine. Am Ende dieser Konzeptionsphase wurde über ein Benchmark der Leistungskennzahlen das Szenario 2 als leistungsstärkstes ausgewählt und weiter ausgeplant. Das Szenario 2 ist im Detail in Bild2 dargestellt.
Ausgangspunkt der Systemsteuerung sind die monatlich gebündelten Bedarfsanforderungen am Ersten eines Monats. Diese Bedarfe bzw. Produktionsaufträge werden über ein vorher konzipiertes, rüstzeitoptimales und auf die Kreuzkontamination abgestimmtes Produktionsrad als dritte wesentliche Steuerungssystematik in das System eingelastet. Das Produktionsrad folgt dabei dem Prinzip FSVV (Fixed Sequence Variable Volume), d.h. eine feste Produktreihenfolge, wobei die Produktionsmenge variieren kann. Bedarfsschwankungen einzelner SKUs nivellieren sich im Optimalfall aus, können aber in Einzelfällen über Zusatzschichten abgefangen werden. Es stellt sich ein kontinuierlicher, sich monatlich wiederholender Zyklus in der Produktion ein, der über Lernkurveneffekte ein Minimieren der Rüstzeiten verspricht. Durch Nutzen der Produktionsräder und das Verketten einzelner Stufen mit Fifo-Rutschen und Supermärkten ist eine Produktionsplanung mit einem Monat Vorlauf bei einer Verbesserung der Durchlaufzeiten, der Bestände und der Lieferfähigkeit möglich.

Robustheit ermitteln und einstellen

Im Anschluss wird innerhalb der Phase Feinsimulation das Szenario auf seine Robustheit überprüft. Hierzu werden die Eingangsparameter, wie etwa Absatzzahlen und Maschinenausfälle, stochastischen Schwankungen unterworfen, um die Reaktion des Systems auf die verwendeten Leistungskennzahlen zu ermitteln. Das Ziel ist die optimale Konfiguration der beeinflussbaren Parameter.

Welches die konkreten Untersuchungsgegenstände einer Feinsimulation sind, ist vom jeweiligen Anwendungsfall abhängig. Vielversprechende Analysen betreffen die Identifikation von Bottleneck-Maschinen, insbesondere bei volatilen oder ansteigenden Nachfragemengen. Stochastische Untersuchungen geben Aufschluss darüber, inwiefern Ausfallzeiten an welchen Maschinen die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems mindern. Ist ein relevanter Stellhebel zu erwarten, empfiehlt sich die Anwendung geeigneter Lean-Methoden wie die Total Productive Maintenance, um diesem entgegenzuwirken.
Werden im Rahmen der Lean Transformation die durchschnittlichen Losgrößen gesenkt, lässt sich simulieren, wie die Rüstzeitanteile im Gesamtsystem ansteigen bzw. welche Rüstzeitreduzierungspotenziale im Rahmen von SMED-Workshops (Single Minute Exchange of Die) realisiert werden müssen, um die geforderte Produktionsleistung zu erbringen. Ein weiterer Untersuchungsaspekt ist das Dimensionieren der Meldebestände im Supermarkt. Hohe Meldebestände sorgen einerseits bei stark schwankender Marktnachfrage für eine sichere Marktversorgung, führen aber andererseits zu hohen Zwischenlagerbeständen und dem damit verbundenen Anstieg der Durchlaufzeiten und Kapitalbindungskosten. Mit einer belastbaren Datenbasis, wie sie beispielsweise aus historischen Daten eines größeren Zeitraums gewonnen werden kann, können realistische Nachfrageschwankungen simuliert werden und so die entsprechenden Meldebestände angepasst werden, um das gewünschte Service-Level bei minimaler Kapitalbindung zu erreichen.

Durch die präzise Konfiguration der Prozessparameter konnte eine massive Reduktion der Zwischenlagerbestände und somit der Durchlaufzeiten erreicht werden, ohne die Versorgungssicherheit des Marktes zu gefährden. Darüber hinaus wurden Schwachstellen im System erkannt, priorisiert und mit geeigneten Konzepten aus dem Methodenpool der Lean Production flankiert.

 

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Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML

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