Neue Technologieplattformen machen Wirkstoffe in Tabletten besser bioverfügbar (Teil 1)
  • Evonik hat mit der Schmelzextrusion eine Technologieplattform entwickelt, die die Bioverfügbarkeit schwerlöslicher Wirkstoffe deutlich verbessert.
  • Neue modulare Formulierungssysteme erlauben es, auch für kleine und mittelgroße Biopharmazeutika peroral anwendbare Formulierungen zu entwickeln.
  • Mit verschiedenen Hilfsstoffen wurde ein modulares Drug-Delivery-(MDD-)System geschaffen, mit dem man schnell individuelle Formulierungen entwickeln und die perorale Bioverfügbarkeit von Biologika verbessern kann.
  • Kleine und mittelgroße Biologika können in Mikropartikel oder Mini-Pellets formuliert werden. Jeder Partikel erhält die für den Wirkstoff erforderlichen Module des MDD-Systems - der einzelne Partikel ist also ein komplettes pharmazeutisches System.
  • Eine In-vivo-Studie mit Schweinen zeigte, dass mit dem MDD-System im Vergleich zur klassischen Tablette eine siebenmal höhere relative Bioverfügbarkeit erreicht wird.

Seit über 50 Jahren steuern funktionelle Polymere der Marke Eudragit die Wirkstoffabgabe aus Tabletten und kümmern sich darum, dass der Wirkstoff entweder pH-Wert- oder zeitgesteuert am gewünschten Ort des Magen-Darm-Trakts freigesetzt wird. Die funktionellen Polymere bestimmen dabei nicht nur Zeitpunkt und Ort der Wirkstoffabgabe, sondern können noch viel mehr: Als Tablettenüberzug überdecken sie Geruch und Geschmack eines Arzneimittels – ein wesentlicher Pluspunkt vor allem bei der Behandlung von Kindern – und sorgen dafür, dass der Wirkstoff unbeschadet ans Ziel kommt. Hierzu schirmen die Polymere den Wirkstoff beispielsweise vor Feuchtigkeit oder vor der Magensäure ab und schleusen ihn sicher zum Resorptionsort im Dünn- oder Dickdarm.
Doch der magensaftresistente Tablettenüberzug kann nicht nur den Wirkstoff schützen, sondern umgekehrt auch den Magen. Ein Beispiel ist die Acetylsalicylsäure, die bei Bluthochdruck zur Vorbeugung eines Herzinfarkts dauerhaft in niedriger Dosierung eingenommen wird. Hier schützt der hauchdünne Polymerüberzug den Magen vor der schädlichen Einwirkung der Acetylsalicylsäure.
Durch Verwendung spezieller Polymere können Wirkstoffe auch gleichmäßig über einen längeren Zeitraum freigegeben werden. Diese sogenannten Retardformulierungen werden immer dann genutzt, wenn ein Arzneimittel, beispielsweise ein Betablocker, über den ganzen Tag hinweg wirken soll.
Wissenschaftler in den Forschungszentren des Geschäftsgebiets Pharma Polymers in Deutschland, Indien, China, Japan und den USA erforschen neue Polymere und entwickeln spezifische Formulierungen mit Eudragit-Polymeren. Außerdem erarbeiten sie komplett neue Konzepte für die weitere Funktionalisierung der Polymere, um dem wachsenden Bedarf des pharmazeutischen Markts für neue Funktionalitäten gerecht zu werden.

Bioverfügbarkeit bestimmt die
Wirkstoffeffizienz

Die Bioverfügbarkeit eines Wirkstoffs gibt an, in welchem Umfang er nach der Applikation eines Arzneimittels in den Blutkreislauf aufgenommen wird. Sie ist eine wesentliche Kennzahl und therapeutische Stellgröße und sagt unter anderem aus, wie effizient ein Medikament ist. Die Bioverfügbarkeit ist meist umso besser, je leichter löslich ein Wirkstoff ist und je besser er von den Zellen des Absorptionsorts – Magen-Darm-Trakt, Schleimhäute, Haut, etc. – aufgenommen und in die Blutbahn überführt, also resorbiert wird.
Je nach Löslichkeit und Zellgängigkeit (Permeabilität) lassen sich die Wirkstoffe mithilfe des biopharmazeutischen Klassifizierungssystems (BCS) in vier Klassen einteilen: Sind sie gut wasserlöslich und zellgängig, wie zum Beispiel der Betablocker Metoprolol zählen sie zur Klasse I. Eine schlechte Löslichkeit des Wirkstoffs bei guter Zellgängigkeit führt zur Eingruppierung in die BCS-Klasse II. Gute Löslichkeit und schlechte Zellgängigkeit bedeuten BCS-Klasse III. Und zur BCS-Klasse IV gehört ein Wirkstoff, wenn er sowohl schlecht löslich als auch schlecht zellgängig ist.
Von den heute im Markt befindlichen Medikamenten fallen 30 % in die BCS-Klasse II und 10 % in die BCS-Klasse IV. Das bedeutet, dass 40 % der zurzeit angebotenen Medikamente ein Löslichkeitsproblem haben. Bei den Neuentwicklungen liegt dieser Prozentsatz sogar bei 95 %. Denn durch das in der Industrie angewendete Wirkstoffscreening am Computer gehen überwiegend lipophile Wirkstoffe in die Entwicklung, weil diese besonders gut mit dem jeweiligen Wirkort wechselwirken. Doch je lipophiler eine Substanz ist, desto schlechter löst sie sich im wässrigen Medium des Magen-Darm-Trakts.
Eine Substanzklasse, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, sind die Biopharmazeutika. Gegenwärtig machen sie 16 % des Arzneimittelumsatzes und 15 bis 25 % der jährlich neu eingeführten Arzneimittel in Deutschland aus. Bei Biopharmazeutika handelt es sich um Arzneimittel, die meistens in gentechnisch veränderten Bakterien, Hefen oder Säugetierzellen hergestellt werden, wie etwa Proteine und Nukleinsäuren. Sie werden überwiegend parenteral, meist durch Spritzen in die Vene, verabreicht. Bei peroraler Applikation, also über den Mund, würden sie meist schon im Magen-Darm-Trakt verdaut, inaktiviert und zudem schlecht resorbiert werden.
Neue modulare Formulierungssysteme erlauben es jetzt, auch für kleine und mittelgroße Biopharmazeutika peroral anwendbare Formulierungen zu entwickeln. Sie führen den Wirkstoff sicher durch den Verdauungstrakt und helfen ihm am gewünschten Ort unversehrt durch die Barriere der Darmschleimhaut, wo er kontrolliert in die Blutbahn gelangt.

Bessere Löslichkeit durch
Schmelzextrusion

Löslichkeit und Lösungsgeschwindigkeit fester Arzneimittelsubstanzen hängen von unterschiedlichen physikalisch-chemischen Parametern ab und lassen sich über geeignete galenische Formulierungen verbessern. So erhöht eine vergrößerte Oberfläche, die beim Vermahlen zu Mikro- und Nanometer großen Teilchen (Mikronisieren) entsteht, die Lösungsgeschwindigkeit. Manche Arzneistoffe lassen sich dann aber schlechter benetzen und zeigen dadurch keine Verbesserung der Lösungsgeschwindigkeit.
Die Kristallisationsform beeinflusst ebenfalls die Löslichkeit. So löst sich ein amorpher Wirkstoff im Allgemeinen besser als ein kristalliner, ist aber eher instabil. Er neigt dazu, zu rekristallisieren, also wieder die thermodynamisch stabilere Form anzunehmen. Manche Wirkstoffe lassen sich durch Komplexierung etwa als Cyclodextrin-Einschlussverbindung lösen, andere wiederum durch Zugabe von Emulgatoren. Einen Weg, der sich auf viele Wirkstoffe anwenden lässt, beschreitet die Schmelzextrusion.
Zur Herstellung der Dispersion schmilzt der Doppelschneckenextruder die Polymerkomponenten, die Hilfsstoffe sowie den Wirkstoff und vermischt und homogenisiert sie. Die homogene Schmelze wird unter Druck durch eine Düse gepresst, und es entsteht eine feste Lösung als Strang, als Pellet oder als Folie, die anschließend zu Tabletten weiterverarbeitet werden kann. Nach dem Erstarren der Schmelze bleibt die molekulare Verteilung des Wirkstoffs in der Polymermatrix als feste Lösung bzw. Dispersion erhalten. Stabilisiert wird die homogene Lösung durch Wasserstoffbrückenbindungen, die eine Rekristallisation verhindern. Sobald sich das Polymer dann im Magen-Darm-Trakt löst, gibt es auch den Wirkstoff frei, und zwar in molekularer Form. Die Wirkstoffmoleküle können direkt hydratisiert und resorbiert werden, ohne dass Kristallgitterenergie aufgebracht werden muss, wie dies beim Lösen eines kristallinen Wirkstoffs der Fall ist.
Die Schmelzextrusion lässt sich auch bei temperaturempfindlichen Arzneistoffen anwenden, da durch geeignete Formulierungen die Temperatur, wenn notwendig, stark abgesenkt werden kann. Darüber hinaus ist die Zeit, die der Wirkstoff den Temperaturen ausgesetzt ist, durch den modularen Temperaturaufbau des Extruders sehr kurz. Die Schmelzextrusion ist eine echte Plattformtechnologie, die sich sehr vielseitig anwenden lässt.

Per Computer zur passenden
Formulierung

Neue Entwicklungen zur Löslichkeitsverbesserung mittels Schmelzextrusion führt Evonik nah am Markt und möglichst in akademischen und kommerziellen Partnerschaften durch. Je nach Wirkstoff und gewünschtem Freisetzungsprofil wird eine maßgeschneiderte Polymerformulierung entwickelt. Welches Polymer zu welchem Wirkstoff passen könnte, wird zunächst computergestützt mittels des Berechnungssystems Memfis geprüft. Es berechnet unter anderem die Löslichkeitsparameter des Wirkstoffs und vergleicht sie mit den bekannten Löslichkeitsparametern vieler Polymere.
Mit Memfis ist es möglich, die Anzahl an Experimenten zu  reduzieren, da es Polymer-Wirkstoff-Mischungen mit der größten Wahrscheinlichkeit für gute Mischbarkeit und Stabilität identifiziert. Das System warnt, wenn ein System instabil sein könnte, sich ein Wirkstoff also im Polymer nicht löst und schnell wieder auskristallisieren würde.
Dieses systematische Vorhersagemodell kann für ein schnelles Screening von verschiedenen Polymeren verwendet werden und spart Zeit, Geld und auch Wirkstoff, der oft nur in geringen Mengen zur Verfügung steht. Für Kunden sind diese Vorarbeiten von großem Wert, da es ihnen eine zielgerichtete Versuchsplanung ermöglicht und das langwierige experimentelle Ausprobieren entfällt. Sind Formulierungsvorschläge gefunden, werden die Freisetzungsprofile der Formulierungen in standardisierten In-vitro-Tests nach Arzneibuch mithilfe von Pufferlösungen und HPLC-Messungen experimentell ermittelt und gegebenenfalls optimiert. Die Ergebnisse dieser Experimente werden auch genutzt, um die Technologie der Löslichkeitsverbesserung durch Schmelzextrusion kontinuierlich weiter zu entwickeln. Derzeit erforschen zwei Doktoranden in Großbritannien, wie sich die Stabilität von Dispersionen noch besser vorhersagen lässt und wie sie sich auf die Freisetzung von Wirkstoffen auswirkt.

Eudragit ist eine registrierte Warenmarke, Memfis eine unregistrierte Warenmarke der Evonik Röhm GmbH

Der zweite Teil dieses Beitrags erscheint in P+F 6/2011

Autoren:Dr. Rosario Lizio, Leiter Discovery
and Development Pharma Polymers
Dr. Kathrin Nollenberger, Formulation Development Pharma Polymers
Dr. Norbert Windhab, Leiter Strategic Projects Pharma Polymers
Dr. Firouz Asgarzadeh, Principles
Scientist Pharma Polymers
Dr. Thomas Riermeier, Leiter
Innovation Management Pharma
Polymers, Evonik

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