
(Bild: Siemens)
Zur Person
Maria Grahm ist die Vizepräsidentin des Bereichs Vertical Management Pharma bei Siemens und leitet seit März 2024 das Pharmageschäft. Mit einem Hintergrund in Elektrotechnik von der Universität Lund bringt sie über ein Jahrzehnt Führungserfahrung in der Industrieautomatisierung und digitalen Transformation mit. Zuvor leitete Maria den Bereich Digital Industry Process Automation für Schweden und die nordischen Länder und hatte Schlüsselpositionen bei ÅF Food & Pharma inne. Sie war auch in internationalen Vorständen tätig, darunter PiiA und Swensk Automation, wobei sie die branchenübergreifende Zusammenarbeit und Innovation vorantrieb.
PF: Was sind aus Ihrer Sicht derzeit die größten Treiber für Automatisierung und Digitalisierung in der pharmazeutischen und biopharmazeutischen Produktion?
Maria Grahm: Neben den Kosten spielt der Faktor Zeit eine wesentliche Rolle – insbesondere schnell auf Markt- und Produktionsveränderungen zu reagieren und so die Markteinführungszeit eines Medikaments zu verkürzen. Die Branche hat sich in der Vergangenheit im Kontext Automatisierung und Digitalisierung eher konservativ bewegt und nun das immense Potenzial zur Verbesserung durch Automatisierung sowie Digitalisierung erkannt. Auch die Schwierigkeit, Fachpersonal zu halten, trägt dazu bei, dass mehr automatisierte Lösungen gesucht werden. Die Automatisierung hilft, den Bedarf an ständigem Training und die Problematik des Personalwechsels zu mindern. Pharmazeutische und biopharmazeutische Produktion unterscheiden sich in ihrer Komplexität. Ich habe einmal gehört: Chemische Produktion ist wie ein Fahrrad bauen, biopharmazeutische Produktion eher wie ein Flugzeug. Dieser Fakt bringt neue Herausforderungen mit sich.
PF: Ist eine vollständig automatisierte Produktion mit nur wenigen menschlichen Aufsichtspersonen bereits Realität?
Grahm: Viele große Pharmaunternehmen interessieren sich stark für dieses Konzept. Es gibt Diskussionen über sogenannte „Dark Factories“. Ich persönlich glaube aber nicht, dass Menschen vollständig ersetzt werden können. Es geht eher um eine Vision, in deren Richtung man sich bewegt – mit weniger Personal, aber nicht ohne.
PF: Wie nutzen Pharmaunternehmen digitale Zwillinge, um Prozesse zu optimieren – wie beispielsweise bei Design, Validierung und Technologietransfer?
Grahm: Der Begriff „digitaler Zwilling“ ist vielschichtig, kann aber als ein vollständiges digitales Abbild eines Objekts, eines Fluids, eines Prozesses oder einer gesamten Produktion verstanden werden. Ein digitaler Zwilling kann aber auch eine Kombination aus verschiedenen digitalen Abbildern sein. Aktuelle Trends gehen jedoch weiter, hin zur Simulation von Molekülen oder sogar digitalen Zwillingen des menschlichen Herzens, um Reaktionen auf Belastungen nachzuvollziehen. In der Pharmabranche werden digitale Zwillinge bereits für die Prozessentwicklung, Validierung und den Technologietransfer genutzt, um Simulationen durchzuführen, um die Anzahl an physische Experimente zu reduzieren, um somit die Markteinführungszeit eines pharmazeutischen Produkts erheblich zu verkürzen.
PF: Welche typischen Herausforderungen treten auf, wenn Automatisierung in bestehende GMP-Anlagen – insbesondere bei Brownfield-Standorten – eingeführt wird?
Grahm: Automatisierte Prozesse in bestehenden GMP-Anlagen einzuführen, ist komplexer als bei Neubauten. Eine große Herausforderung ist der Umgang mit vorhandenen, veralteten Legacy-Systemen, deren Upgrade notwendig ist, um Schwachstellen wie zum Beispiel Cybersicherheit zu vermeiden. Oft muss der Umfang des Automatisierungskonzepts auf bestimmte, kritische Bereiche oder Teile der Anlage beschränkt werden, um den Einstieg zu erleichtern. Es kann auch vorkommen, dass die Investitionen, um eine ältere Anlage zu modernisieren, so hoch wären, dass sich stattdessen das Optimieren neuerer Anlagen lohnt, die die älteren langfristig ersetzen. Zudem höre ich oft, dass Menschen fürchten, überflüssig zu werden. Der Wandel muss begleitet werden – es geht nicht nur um Technologie, sondern auch um die Frage: „Was bringt mir das?“ und „Wie bleibe ich Teil des Prozesses?“
PF: Inwieweit können Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen heute bereits zur Entscheidungsfindung in der Produktion beitragen?
Grahm: Ein wichtiges Anwendungsfeld ist Predictive Maintenance, also eine vorausschauende Instandhaltung, die es ermöglicht, Ausfallzeiten von Maschinen zu verkürzen und somit die Anlagenverfügbarkeit und finanzielle Ergebnisse direkt zu beeinflussen. Darüber hinaus kann KI bei der Produktentwicklung helfen, stabile Formen des Zielmoleküls zu finden und die Wechselwirkungen mit dem Körper oder Zellen zu simulieren, was den Prozess der Wirkstoffentwicklung erheblich beschleunigt. Auch die Suche nach Produkt- und Produktionsrelevanter Dokumenten in großen Datenbanken wird durch KI erleichtert, was insbesondere im Hinblick auf regulatorische Anforderungen von großer Bedeutung ist.
PF: Welche Bedeutung haben modulare Produktionskonzepte für den Aufbau flexibler und skalierbarer Pharmaprozesse?
Grahm: Früher konnte der Wechsel von Anlagenkomponenten sechs bis neun Monate dauern; mit einem modularen Plug-and-Play-Ansatz und standardisierten, bereits getesteten Komponenten wird dieser Prozess drastisch verkürzt. Diese gewonnene Flexibilität ist für personalisierte Medizin entscheidend, da sie eine patientennahe Produktion, etwa in Krankenhäusern, ermöglicht. Modulare Systeme erlauben kleinere, dezentrale Produktionsstätten. Obwohl die hohen Kosten personalisierter Therapien eine Herausforderung darstellen, eröffnen sie gleichzeitig neue Potenziale zur Kostensenkung.
PF: Spielt die kontinuierliche Produktion bereits eine Rolle?
Grahm: Ja, zunehmend. Prozesse, die früher Wochen für eine Charge in Anspruch nahmen, können dadurch einen kontinuierlichen Prozess nun in wenigen Tagen abgeschlossen werden, auch wenn das bisher nur im kleinen Maßstab stattfindet. Manche Prozesse bleiben batchbasiert, da Endprodukte immer noch Chargennummern benötigen, aber zumindest bestimmte Teile der Produktion können kontinuierlich erfolgen. Dies beschleunigt Abläufe, spart Platz und senkt Kosten. Die Prozessautomatisierung ist dabei entscheidend, um die Effizienz und Qualität dieser kontinuierlichen Abläufe zu gewährleisten.
PF: Wie gelingt der Übergang zur papierlosen Produktion in einem regulierten Umfeld?
Grahm: Wir beobachten bereits, dass große Pharmaunternehmen papierlose Prozesse im großen Stil umsetzen – in manchen Fällen sogar in über 50 Produktionsstätten mithilfe eines Manufacturing-Execution-Systems (MES). Die Einführung eines papierlosen Produktion Ansatzes bringen spürbare Zeit- und Kosteneinsparungen mit sich. Kleinere und mittelständische Unternehmen, insbesondere in Ländern wie Indien, arbeiten hingegen häufig noch vollständig manuell und papierbasiert. Der Übergang zur papierlosen Produktion verläuft daher sehr unterschiedlich und hängt stark von der Unternehmensgröße und dem digitalen Reifegrad ab.
In der Regel beginnt der Wandel mit einem „Paper-to-Glass“-Ansatz: Dokumente werden zwar digitalisiert, die Arbeitsweise bleibt aber zunächst weitgehend papierbasiert. Der vollständige Übergang zu papierlosen Prozessen mit Funktionen wie „Approval-by-Exception“ erfordert fortgeschrittene digitale Strukturen, bringt jedoch große Vorteile für das Qualitätsmanagement. Die Digitalisierung bestehender Dokumente ist zeit- und ressourcenintensiv. Viele Unternehmen starten daher mit papierlosen Prozessen in einzelnen Bereichen und bauen diesen Schritt für Schritt aus.
PF: Wie helfen Automatisierung und Digitalisierung, die Time-to-Market zu verkürzen?
Grahm: Wie stark sich Prozesse verbessern lassen, hängt dabei von der jeweiligen Strategie des Unternehmens ab. Manche setzen auf Smart Manufacturing, wie es beispielsweise im US-amerikanischen „Smart Factory“-Programm umgesetzt wird, andere fokussieren sich auf das Labor oder direkt auf Maschinenebene. Ein Kunde möchte die Branche verändern, indem er Maschinen selbst entwickelt, anstatt sich rein auf Maschinenbauer zu verlassen. Ziel ist es, die Abhängigkeit zu verringern und durch ein einmal entwickeltes, modulares System, das weltweit nach dem Copy-Paste-Prinzip eingesetzt werden kann, Zeit zu sparen. Auch wenn Maschinenbau nicht zur Kernkompetenz dieses Unternehmens gehört, wird der klassische Maschinenbauer als Engpass gesehen. Deshalb suchen Pharmaproduzenten gemeinsam mit uns nach Alternativen.
Ein weiterer wichtiger Beschleuniger ist der Einsatz digitaler Simulationen anstelle physischer Experimente. Damit lässt sich die Zeit der Wirkstoffentwicklung deutlich verkürzen. Künstliche Intelligenz hilft zusätzlich dabei, erfolgversprechende Wirkstoffe effizienter zu identifizieren. Diese Technologien tragen dazu bei, die Time-to-Market insbesondere in frühen Entwicklungsphasen zu verkürzen. Damit verbunden ist auch ein Nachhaltigkeitseffekt: Der Einsatz digitaler Methoden spart Ressourcen und Energie – was sowohl die Kosten senkt als auch die Umwelt schont.
Dennoch bleiben reale Tests, vor allem in klinischen Studien, unerlässlich. Simulationen können erste Aussagen darüber treffen, wie der menschliche Körper auf einen Wirkstoff reagiert, ersetzen aber keine Tests am Menschen.
