Montagmorgen, 10:25 Uhr: Gerade einmal drei Stunden war die Produktion des neuen Energydrinks gelaufen, bevor die Abfülllinie auf Grund einer Dichtungsleckage abgestellt werden musste. Warten auf den Monteur, Reparatur, erneute CIP-Reinigung: Ein Produktionsausfall geht ins Geld. Und spätestens bei der Frage nach der Ursache wird klar: der einfache O-Ring unterliegt einem komplexen Gemisch an Einflussgrößen und kann schnell zur Achillesferse der Produktion werden: War der Schaden durch einen Montagefehler längst vorprogrammiert? Wurde das dafür vorgesehene Originalteil verwendet? War der Werkstoff überhaupt für das neue Produkt geeignet? Und: Hatte dem Ring eventuell das neue Reinigungsmittel – oder vielleicht auch nur dessen veränderte Einwirkungszeit – zugesetzt?
Denn eines war den mehr als einem Dutzend Experten, die auf Initiative vom Dichtungshersteller Freudenberg Process Seals im Herbst 2005 zum Trendforum „Dichtungstechnik in der Getränkeindustrie“ zusammengekommen waren, längst klar: Die Anforderungen an statische und dynamische Dichtungen steigen. Unter der Moderation von Dr. Gerhard Hauser von der TU München diskutierten Konstrukteure, Serviceleiter und Produktmanager von Getränkemaschinen- und -anlagenlieferanten sowie Komponentenanbieter aktuelle Problemstellungen rund um die Dichtung, ermittelten neue Anforderungen und benannten Trends in der Anlagen- und Dichtungstechnik.
Eine Forderung der Anwender und Anlagenbauer für dynamische Dichtungen heißt beispielsweise eine Standzeit von 6000 Stunden, d.h. einem Dreischichtbetrieb ohne Dichtungswechsel über ein Jahr. „Wir brauchen diese hohen Standzeiten, denn ein stundenlanger Ausfall wegen Wartung wird von den Kunden nicht mehr akzeptiert“, stellt beispielsweise Kurt Schulz, Serviceleiter Füll-, Verschließ- und Reinigungstechnik bei Krones, fest. Ziel ist es, durch geplante Instandhaltung und Einhaltung der Parameter teure ungeplante Stillstandzeiten zu vermeiden.
Selbstschmierende Dichtung gefordert
Gerade bei dynamischen Abdichtungen ist die Schmierung der Dichtung immer wieder ein neuralgischer Punkt hinsichtlich Standzeit, aber auch bereits beim Einbau. „Ideal wäre eine Dichtung, die man nicht mehr schmieren muss“, bringt beispielsweise Werner Deger, Leiter Konstruktion und Entwicklung, bei Südmo Components, eine weitere Anforderung auf den Punkt. Und im besten Fall sollte der Selbstschmier-Effekt den Reibwert in ähnlichem Maße reduzieren, wie die Fettschmierung. Denn gerade beim Schmieren von Dichtungen werden jede Menge Fehler gemacht: Oft wird zu viel geschmiert, so dass die Dichtung nicht mehr in den vorgesehenen Einbauraum passt, oder es wird ein falsches Schmiermittel verwendet, das die Dichtung schädigt. „Das Know-how des Anwenders bei der Auswahl des richtigen, insbesondere FDA-konformen Schmierstoffs ist ein Problem“, berichtet Markus Clemens vom Hersteller Freudenberg, und Werner Deger ergänzt: „Wir schulen unsere Kunden vor der Inbetriebnahme, aber das Wartungspersonal wechselt häufig bereits nach kurzer Zeit.“ Gerade in Übersee ist – selbst in Getränkeanlagen – das Schmieren von Dichtungen mit Petroleum eine unselige Tradition, die den häufig eingesetzten EPDM-Elastomeren zusetzt und eine Gewohnheit, die auch die Verwendung selbstschmierender Dichtungen überlagern würde.
Einen Lösungsansatz stellt Nicole Schneider, Produktmanagerin bei Freudenberg Process Seals, zur Diskussion: Den Einsatz von Wartungspaketen, bestehend aus Dichtung und einer mitgelieferten Portion des passenden Schmierstoffs. „Die Idee ist gut, ob das aber praktikabel ist, muss die Praxis zeigen“, meint Reinhard Moß, Leiter technisches Produktmanagement beim Zentrifugenhersteller Westfalia Separator. Dass der Trend jedoch zu selbstschmierenden Dichtungen gehen wird, darin sind sich Maschinenbauer und Dichtungshersteller einig. Eine gängige Technik ist beispielsweise der Einsatz von Gleitlacken oder anderen Beschichtungen, die den Stick-Slip-Effekt verringern und die Vorschmierung bei der Montage überflüssig machen sollen. „Es gibt solche Lösungen, doch ihre Lebensdauer ist noch zu kurz“, berichtet Alois Monzel, technischer Leiter beim Getränkeanlagenbauer KHS Till. Es besteht also Handlungsbedarf.
Schärfere Reinigungsmittel setzen der Dichtung zu
Weitere Problemfelder in der Praxis sind einerseits der Trend zu häufigen Produktwechseln und der Einsatz aggressiverer Reinigungsmittel bei sich ändernden Reinigungsbedingungen. So kann ein bei der Anlagenkonzeption nicht vorgesehener Wechsel von Molkeprodukten auf Fruchtzubereitungen den Dichtungen bereits enorm zusetzen. „Allerdings kann der Reiniger einer Dichtung viel mehr zu schaffen machen, als das Produkt“, weiß Paul Massini, Serviceleiter Deutschland bei Westfalia Separator. Da der Trend dahin geht, die Reinigungszeiten weiter zu verkürzen, kommen in immer kürzeren Zeitabständen neue Reiniger auf den Markt – mit häufig nicht absehbaren Folgen für die eingesetzten Dichtungen. „Anhand einer Liste für empfohlene Reinigungs- und Desinfektionsmittel geben wir Konzentration, Temperatur und Einwirkzeit der Reinigungsmittel vor. Jedoch wird die entgültige Festlegung der verwendeten Reinigungsmittel zwischen Kunden und Reinigungsmittelhersteller getroffen“, beschreibt Erwin Knieling, Leiter Füll- und Verschließtechnik bei Krones, ein weiteres Problemfeld.
„Die Hersteller von Reinigungsmitteln werden von den Anwendern mittlerweile auch in die Verantwortung genommen“, berichtet Alois Monzel. Das Bewusstsein, dass diese mit den Anlagen- und Dichtungsherstellern zusammenarbeiten müssen, setzt sich nach Meinung der Diskussionsteilnehmer aber erst langsam durch. Denn den Reinigungsmittelherstellern und Anlagenbetreibern geht es in erster Linie darum, das Wachstum von Mikroorganismen zu verhindern. Die Dichtung spielt zunächst kaum eine Rolle. Erst wenn die Anlage nicht mehr zuverlässig läuft, dann soll der Komponentenhersteller helfen.
„Selbst bei Anlagen, bei denen die Reinigung automatisiert ist, kommt es zu Problemen, wenn das Reinigungsmittel beispielsweise über ein ganzes Wochenende in der Anlage verbleibt“, berichtet Dr. Ulrich Liedtke von Freudenberg Process Seals. Ein HACCP-Problem, das der Betreiber – so die Meinung von Dr. Gerhard Hauser – analysieren und dann verantworten muss. Durch die HACCP-Betrachtung sollen kritische Kontrollpunkte in Hygieneprozessen definiert und systematische Verfahrensfehler ausgeschlossen werden.
Praxisnahe Prüfbedingungen gefordert
In der Diskussion zeigte sich, dass es immer wieder nicht vorhersehbare Praxisbedingungen sind, die zum Ausfall der Dichtungen führen. Um diese so weit wie möglich eingrenzen zu können, wird die Forderung nach Prüfmethoden laut, die sich zukünftig stärker an der Praxis orientieren sollen. Dass die Praxisbedingungen auf Grund der Vielzahl an Parametern kaum im Testaufbau erreicht werden können, ist einerseits klar. „Andererseits brauchen wir jedoch eine bessere Vergleichbarkeit der Werkstoffe durch einen standardisierten dynamischen Prüfmodus“, fordert Markus Clemens. Das sieht auch Klaus-Peter Linde, Leiter Ersatzteilvertrieb Technik vom Anlagenbauer KHS so: „Uns werden noch viel zu wenig Daten über Dichtungen zur Verfügung gestellt.“
„Werkstoff, Form und Einbauraum müssen in die Prüfbedingungen einbezogen sein und wir brauchen ein Rechenmodell für die Konstruktion“, erweitert Alois Monzel den Forderungskatalog hinsichtlich Dichtungsprüfung. Ein erster Schritt könnte die Festlegung eines Prüfmodus für dynamische Dichtungen sein, mit dem sich das Gleitverhalten von Elastomeren auf verschiedenen Gegenlaufflächen bestimmen lässt.
Plagiate machen Herstellern und Anwendern zu schaffen
Spätestens dann, wenn Anlagenausfälle zu einem wirtschaftlichen Schaden für den Betreiber führen, werden auch Maschinen- oder Dichtungslieferanten in die Ursachenforschung einbezogen. Und nicht selten wird dann erst einmal geprüft, ob überhaupt die bei der Konstruktion vorgesehenen Originalteile verwendet wurden. „Die EU-Richtlinien fordern eine Rückverfolgbarkeit für alle Teile einer Anlage“, verdeutlicht Gerhard Hauser die Brisanz.
Dabei geht es nicht nur um Produktpiraterie – dem Ersatz von Originalen durch billigere Plagiate – sondern schlichtweg auch um die reale Gefahr von Verwechslungen. Im Idealfall soll also jede Dichtung so gekennzeichnet werden, dass sie einerseits nicht von Produktpiraten gefälscht werden kann, andererseits auch vom Endanwender ohne komplizierte Analysen festzustellen ist, ob es sich um die richtige Dichtung für den jeweiligen Einsatzfall handelt. Vom Barcode über Laserstrukturierung bis zur DNA-Kennzeichnung reichen die diskutierten Methoden und die Hersteller scheuen sich nicht, den Einsatz von Techniken zu erwägen, die beispielsweise gegen Geldfälschung oder Arzneimittelplagiate verwendet werden. Und auch die Maschinenbauer müssen über eine transparente Logistikkette in die Rückverfolgung von Anlagenkomponenten einbezogen werden.
Vision: „Intelligente“ Dichtung sagt Ausfall voraus
Hightech vom Werkstoff bis zur Logistik kennzeichnen heute das C-Teil Dichtung. Grund genug, für Gerhard Hauser auch eine Diskussion über eine Vision der „intelligenten“ Dichtung anzustoßen. Integrierte Sensoren und Chips, die Alterungsprozesse, Leckagen oder Verschleiß registrieren bzw. Logistikinformationen speichern, bis hin zu Werkzeugen, die eine zustandsbezogene Instandhaltung erlauben, stehen dabei im Mittelpunkt. Oberstes Kriterium ist die Anlagenverfügbarkeit, prädestiniert wären solche Lösungen besonders an sicherheitsrelevanten Stellen. „Wenn eine Dichtung einen Störfall vorhersagen könnte, wäre ein Preisaufschlag von 50Euro bei einer 300Euro teuren Dichtung kein Problem“, steckt Kurt Schulz den Kostenrahmen für „intelligente“ Funktionen ab. Und Reinhard Moß ergänzt: „Eine intelligente Dichtung muss länger halten, sonst ist sie unsinnig!“
Breitbandwerkstoff zum günstigen Preis gewünscht
Doch in erster Linie ist die Lebensdauer einer Dichtung erst einmal eine Frage der richtigen Werkstoffwahl. Diese soll sich – schon um Verwechslungsfehler zu verringern – auf möglichst wenige Werkstoffe beschränken. Wichtige Forderungen sind dabei sehr gute CIP/SIP- und Fett-Beständigkeit sowie FDA-Konformität. „Ideal wäre eine kostengünstige EPDM-Dichtung, mit der man 80 Prozent der Anwendungen abdecken kann, und ein teurerer Hochleistungswerkstoff, der die restlichen 20 Prozent erschlägt“, wünscht sich Werner Deger: „Eine garantierte Lebensdauer von einem Jahr würde einen Preisfaktor bis hin zum dreifachen von EPDM rechtfertigen.“
Bislang stehen als universeller Werkstoff lediglich Perfluorelastomere zur Verfügung, wie das für Lebensmittel zugelassenen Simriz 484. Ein Werkstoff, der die Lücke zwischen kostengünstigem EPDM und hochpreisigem Perfluorelastomer füllt, fehlt noch.
Fazit: Dichtungen sind in der Getränkeindustrie häufig die Achillesferse einer Produktionsanlage und müssen sorgfältig ausgewählt, geplant und montiert werden. Um Anlagenstillstände zu vermeiden und die Laufzeit der Anlagen zu erhöhen, sind gemeinsame Anstrengungen von Dichtungsherstellern, Maschinen- und Reinigungsmittellieferanten sowie Anwendern notwendig. Dabei geht es nicht nur um die Entwicklung neuer Werkstoffe sondern auch die Schaffung praxisnaher Prüfmethoden und einer transparenten Logistikkette für Originalteile.
Bei dynamischen Abidchtungen ist die Schmierung immer wieder ein neuralgischer Punkt
Reiniger können einer Dichtung viel mehr zusetzen als das Produkt selbst
„Uns werden noch viel zu wenig Daten über Dichtungen zur Verfügung gestellt“
Klaus-Peter Linde, Leiter Ersatzteilvertrieb Technikvom Anlagenbauer KHS
„Das Know-how des Anwenders bei der Auswahl des richtigen,insbesondere FDA-konformen Schmierstoffs ist ein Problem“.
Markus Clemens, Freudenberg Process Seals
„Ideal wäre eine Dichtung, die man nicht mehr schmieren muss“
Werner Deger, Leiter Konstruktion und Entwicklung, Südmo Components
„Eine intelligente Dichtung muss länger halten, sonst ist sie unsinnig!“
Reinhard Moß, Leiter technisches Produktmanagement, Westfalia Separator
„Die entgültige Festlegung der verwendeten Reinigungsmittel zwischen Kunden und Reinigungsmittelhersteller getroffen“
Erwin Knieling, Leiter Füll- und Verschließtechnik bei Krones
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