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Siemens will seine Kunden in der Chemie- und Pharmaindustrie vom Nutzen des digitalen Zwillings ihrer Anlagen überzeugen. (Bild: National Instruments)

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Dr. Jürgen Brandes ist CEO der Division Process Industries and Drives der Siemens AG. "Mit dem digitalen Zwilling haben wir die technischen Voraussetzungen für Industrie 4.0 schon heute geschaffen."

CT: Siemens hatte sich zur Achema das Messe-Motto „Accelerate the digital transformation“ gewählt. Bislang war die Chemie beim Einsatz neuer Technologien eher zurückhaltend. Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass die Branche ihre Digitalisierungsbemühungen beschleunigt?
Brandes: Zunächst möchte ich dem Eindruck widersprechen, dass Chemie- und Pharmaindustrie nicht innovativ sind. Die Herausforderungen in Sachen Umwelt, Sicherheit und Gesundheit oder Produktionsanlagen mit sehr langen Laufzeiten, teils 20 Jahre und länger, führen zu einem anderen Investitionsverhalten wie zum Beispiel in der Automobilindustrie, wo für eine neue Autoserie eine neue Fabrik errichtet wird. Wir haben es in der Chemie und Pharmaindustrie mit sehr kompetenten Fachleuten zu tun – vom Engineering über den Betrieb bis hin zum Management. Diese wollen wir von dem Nutzen des digitalen Zwillings ihrer Anlagen überzeugen. In logischer Konsequenz sollten sie dann wiederum von ihren Engineering-Partnern und Systemintegratoren die Anlagendokumentation in digitaler Form eines digitalen Zwillings einfordern, da diese Informationen als ein wichtiger erster Bestandteil des digitalen Zwillings einer Produktionsanlage verwendet werden können.

CT: Worin besteht dieser Nutzen konkret?
Brandes: In erster Linie in der Flexibilität, um auf Anforderungen der Märkte reagieren zu können. Die Welt verändert sich sehr schnell – es reicht heute nicht mehr aus, Chemie zu produzieren – die Kunden fordern immer stärker individualisierte Produkte. In der pharmazeutischen Industrie geht der Trend beispielsweise hin zur personalisierten Medizin – und diese muss in kleinsten Losgrößen produziert werden können. Um die Forderungen der Arzneimittelbehörden zu erfüllen, ist eine sehr tief gestaffelte Dokumentation notwendig. Hier kann der digitale Zwilling einer verfahrenstechnischen Produktionsanlage unterstützen. Als erster Anbieter überhaupt bieten wir ein durchgängiges Datenmodell entlang des gesamten

Anlagen-Lebenszyklus, von Integrated Engineering zu Integrated Operations bis zu datenbasierten Services. Dieser digitale Zwilling ermöglicht es Anwendern, sogar während des laufenden Betriebs eine höhere Flexibilität, kürzere Time-to-Market, gesteigerte Effizienz und verbesserte Qualität zu erreichen. Damit haben wir die technischen Voraussetzungen für Industrie 4.0 schon heute geschaffen.

Zur Person

Dr. Jürgen Brandes (57) führt seit Oktober 2015 den Siemens-Geschäftsbereich Process Industries and Drives als CEO. Der promovierte Elektrotechniker ist seit 1989 bei Siemens beschäftigt und leitete unter anderem das Geschäftsgebiet Großantriebe, die Bahn-Automation sowie den Geschäftsbereich Unit Mobility Management.

CT: Sind Sie als Automatisierungsanbieter hier Treiber oder Getriebener?
Brandes: Wenn man sieht, wie innovativ die Anwender zum Beispiel in der Namur in den letzten Jahren die Themen setzen, dann kann man nicht mehr sagen, dass die Prozessindustrie nur abwartet, was sich die Hersteller als Nächstes überlegen. Wir haben zur Achema zwei wesentliche Themen dazu aufgegriffen: Die modulare Automatisierung mit dem Module Type Package, MTP, und die Namur Open Architecture, NOA. Unsere Rolle besteht darin, wir die neuen Konzepte vorwettbewerblich mit den Anwendern und Mitbewerbern ausarbeiten und in unserem Leitsystem abbilden. Dies beinhaltet etwa die Frage, wie man aus der klassischen Automatisierungspyramide Daten für die Optimierung des Gesamtprozesses ausleitet. Dazu der Aspekt einer möglichen autonomen oder teilautonomen Fahrweise. Daneben unterstützen wir den Trend zu offenen Systemen: Unsere Kunden wünschen sich eine Wettbewerbslandschaft, in der man die besten Teilkomponenten und Teilsysteme frei wählen kann und diese modular miteinander kombiniert. Durch unseren auf Modulen basierenden Ansatz – sowohl in der Automatisierung als auch bei den Engeneering-Tools – unterstützen wir diesen Trend. Aber wir halten uns bei der Frage, wie Schnittstellen aussehen können, nicht allein an die Vorgaben der Industrie, sondern wir arbeiten aktiv an den Datenstrukturen mit, um offene Systeme zu erreichen.

CT: Auffällig ist in dem Zusammenhang, dass Siemens in den vergangenen Monaten gleich mehrere strategische Kooperationen bekannt gegeben hat – so zum Beispiel mit Evonik, Covestro, Bilfinger und Sartorius. Was ist der Hintergrund dafür?
Brandes: Wir wollen das klassische Kunden-Lieferanten-Verhältnis neu gestalten und unsere Produkte und Leistungen gemeinsam mit Partnern in einem Co-Creation-Prozess entwickeln. Dabei definieren wir gemeinsam mit dem Kunden dessen Ideen und unterstützen ihn bei deren Umsetzung. Bilfinger will beispielsweise sein Engineering-Angebot so gestalten, dass die Engineering-Unterlagen am Ende eines Projekts komplett digital an den Kunden übergeben werden. Dazu nutzt Bilfinger unsere Software-Lösung Comos für ganzheitliches Anlagenmanagement.

Mit Evonik wollen wir gemeinsam ein Asset-Lifecycle-Datenmodell für unsere Engineering-Plattform Comos entwickeln und integrieren. Dieses Datenmodell wurde von Evonik auf Basis des internationalen Standards DEXPI, ISO 15926 definiert. Covestro will bestehende Anlagen sukzessive modernisieren und deren Verfügbarkeit erhöhen – dazu haben wir eine Zusammenarbeit bei der Prozess­automatisierung und bei Engineering Tools vereinbart. Sartorius will mit uns als Partner die hauseigene Automatisierungstechnik Stück für Stück standardisieren und verstärkt unsere Plattformlösung weltweit umsetzen. Dabei sind wir dann nicht mehr nur Hard- und Softwarelieferant, sondern wir entwickeln die Ideen von Sartorius weiter.

CT: Die großen Chemie- und Pharmaunternehmen haben solche Projekte in der Vergangenheit selbst realisiert. Jetzt scheint der Trend zur Kooperation mit Systemlieferanten zu gehen. Was ist der Hintergrund dafür?
Brandes: Die Unternehmen konzentrieren sich mehr und mehr auf die Themen, mit denen sie sich im Wettbewerb differenzieren können. Wichtig ist in solchen Projekten unser klares Bekenntnis, dass wir das geistige Eigentum unserer Kunden schützen! Dieses steckt einerseits in den Verfahren, aber auch in den Stoffdaten. Hier hilft uns, dass wir bezüglich Datenschutz die notwendige Kompetenz in Richtung Cybersecurity aufgebaut haben. Und dort, wo wir zusätzlich Know-how brauchen, arbeiten wir mit weiteren Partnern zusammen. Beispiele dafür sind die Kooperationen mit Bentley oder PSE. Hier werden der Datenaustausch und die Frage des Datenformats immer wichtiger. Auch deshalb ist das Thema Co-Creation für uns so wichtig.

CT: Um von einem „integrated engineering“ zu „integrated operations“ zu kommen, muss der digitale Zwilling bereits vom Anlagenbau zur Verfügung gestellt werden. Bislang ist hier aber immer noch ordnerweise Papier die Realität.
Brandes: Deshalb adressieren wir das Thema beim Endkunden, damit dieser bei seinen Lieferanten auch die Dokumente und Daten so einfordert, dass diese sich digital weiterverarbeiten lassen.

CT: Wo steht die Prozessindustrie in Sachen Digitalisierung auf einer Skala von 0 bis 100 Prozent?
Brandes: Die Bereitschaft zur Digitalisierung ist bei 95 Prozent aller Kunden in der Chemie bereits zu erkennen, bei den Pharmazeuten sind es fast 100 Prozent. In der Öl und Gasindustrie haben wir noch einiges zu tun. Wir sind sehr positiv überrascht, dass selbst kleine Systemhäuser die Digitalisierung wirklich auch als Chance sehen.

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6. Engineering Summit

Im Rahmen einer Keynote wird Dr. Jürgen Brandes auf dem 6. Engineering Summit, der am 20. und 21. November in Wiesbaden stattfinden wird, das Thema Digitalisierung im Anlagenbau zur Diskussion stellen. Die Veranstaltung, die von der Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau im VDMA und der CHEMIE TECHNIK gemeinsam veranstaltet wird, richtet sich an Führungskräfte im Anlagenbau sowie an Owners Engineers und Zulieferer des Anlagenbaus gleichermaßen. Der Networking-Kongress steht in diesem Jahr unter dem Motto „Taking the Lead“ und adressiert ausgehend von Marktveränderungen und Herausforderungen die Frage, wie der Anlagenbau sein Servicegeschäft und die Digitalisierung aktiv vorantreiben kann.

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