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Die rund 650 Teilnehmer der Namur-Hauptsitzung 2019 beschäftigten sich mit durchaus kritisch formulierten Themen wie der Frage, warum die Automatisierer die Digitalisierung der Prozessindustrie nicht zum Fliegen bekommen. (Bild: Redaktion Pharma+Food)

 

Geld geht vor Hoffnung – mit diesem provokanten Statement zitierte Ilona Sonneveld, als Ingenieurin in der Leitung eines Pharmabetriebs bei Bayer tätig, die Erwartung der Betriebe an Investitionen in digitale Technik. Denn auch ein halbes Jahrzehnt nach Ausrufung der digitalen Revolution (Industrie 4.0) werden viele Projekte aus Technikbegeisterung gestartet und nicht mit dem klaren Blick auf den Mehrwert für den Geldgeber.

Durchaus selbstkritisch stellten die Prozessautomatisierer bei ihrem jährlichen „Familientreffen“ Anfang November in Bad Neuenahr Fragen wie „Warum bekommen wir die Digitalisierung der Prozessindustrie nicht zum Fliegen?“ oder „Die IT/OT-Welle – ein Tsunami oder eine Welle, die man reiten kann?“. Dass dem Hype um die Digitalisierung nach dem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ das „Tal der Tränen“ folgt, muss nicht verwundern. Schließlich ist dieser Verlauf für die Einführung neuer Technologien bereits seit vielen Jahren im Hype Cycle des Beratungsunternehmens Gartner beschrieben. Doch wo verorten sich die Prozessautomatisierer in diesem Zyklus? „Das Tal der Tränen haben wir bereits durchschritten, jetzt kommen die digitalen Technologien in die Umsetzung“, gibt sich Dr. Felix Hanisch, Vorstandsvorsitzender der Namur überzeugt.

Beispiele dafür gab es auf dem Anwendertreffen reichlich: Ausgehend vom Sitzungsthema „Enhanced connectivity for smart production“, das vom Sitzungssponsor Phoenix Contact präsentiert wurde, wurden die aktuellen Entwicklungen aufgezeigt: So zum Beispiel wie Daten aus Feldgeräten über die Namur Open Architecture („2. Kanal“) rückwirkungsfrei und um Prozess-Kontext angereichert in Cloud-Applikationen ausgeschleust werden, um dort für Prozessoptimierungsaufgaben genutzt zu werden.

Gretchenfrage: Wie hoch ist der wirtschaftliche Nutzen?

Seit Jahren wird an dieser Stelle der Nutzen für Applikationen der vorausschauenden Wartung angeführt. Aber auch eine automatische As-Built-Dokumentation in Engineeringsystemen lässt sich über die erweiterte Konnektivität der Feldgeräte realisieren. Und trotzdem bleibt die Frage der Betriebe bestehen: „Wie hoch ist der monetäre Nutzen?“

Und diese lässt sich meist gar nicht so einfach beantworten: Hat die zustandsbezogene Wartung tatsächlich den Aufwand für deren Realisierung wieder eingespielt? Oft fehlt den Ingenieuren dann das Zahlenmaterial, um solche Fragen überzeugend beantworten zu können. „Das ist auch der Situation geschuldet, dass wir Automatisierer mit relativ vielen Ingenieuren und Naturwissenschaftlern arbeiten und uns erst einmal um die Technik kümmern. Erst im zweiten Schritt wird deren Wirtschaftlichkeit überprüft“, sagt Namur-Vorstand Dr. Thorsten Dreier, Covestro: „Da müssen wir in den Namur-Arbeitskreisen noch besser werden, indem wir versuchen, nach so einem Projekt mit einer „Bierdeckel-Berechnung“ zu zeigen, was die Digitalisierung gebracht hat.“

Geschäftsprozesse rücken in den Fokus der Automatisierer

Doch auch dann bleibt die Frage, ob auf diesem Wege die Prozessautomatisierer die Digitalisierung „zum Fliegen“ bringen können. Aus Sicht von Ilona Sonneveld, Bayer, und Dr. Kai Dadhe, Evonik, unterschätzen die Automatisierungsspezialisten nicht nur die organisatorischen Strukturen in den Geschäftsprozessen, sondern auch die menschlichen Aspekte: So haben Betriebsleiter, Management, Meister, Betriebsingenieure und Anlagenbediener durchaus unterschiedliche Rollen im Geschäftsprozess und unterschiedliche Sichtweisen auf die Digitalisierung und deren Nutzen. „Wir müssen im Zieldreieck aus Technik, Menschen und Ökonomie die Balance finden“, so Sonneveld. Die Automatisierer sollten deshalb nicht nur die Verbesserung der Technik, sondern vor allem der Geschäftsprozesse in den Blick nehmen.

Ein solcher ist die in Betrieben alltägliche Verschiebung von Aufträgen, die dann notwendig wird, wenn eine Produktionsanlage aufgrund eines technischen Defekts nicht genutzt werden kann. Bislang gibt es hier häufig Informationsverluste, weil diese mündlich kommuniziert werden: Vom Bediener zum Mechaniker, vom Mechaniker zum Schichtmeister und vom Schichtmeister zum Logistiker. Funktioniert diese Kette nicht reibungslos, steht die Logistik am Ende mit leeren Händen da.

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Am Beispiel einer Auftragsverschiebung lässt sich der Nutzen der Digitalisierung für Produktionsbetriebe darstellen.

Mit einer durchgängigen Digitalisierung löst derselbe Defekt am Ende eine Optimierung der Auftragsreihenfolge aus, und der neue Produktionsplan wird automatisch an die Logistik kommuniziert. Mit solchen „Storys“ wollen die Automatisierer künftig für ihre Digitalisierungsprojekte werben und dabei in kleinen Schritten vorgehen. „Die Erwartung, dass durch Digitalisierung und Cloudlösungen Wunder geschehen werden, haben wir hinter uns gelassen. Jetzt stehen pragmatische Lösungen im Zentrum“, verdeutlicht Felix Hanisch. „Wir müssen solche Use Cases künftig stärker miteinander teilen“, formuliert Namur-Vorstand Michael Pelz, Clariant, das Ziel und ergänzt: „Bei der Einführung von NOA machen wir das anders als bisher: Wir sind von den Use Cases ausgegangen und haben dazu die Technologie definiert. Die Komplexität ist dadurch deutlich geringer, wie wenn man sich am technisch Machbaren orientiert.“

NOA-Anwendung in der Praxis realisiert

Eine Sichtweise, die auch Sitzungssponsor Phoenix Contact teilt: Anhand konkreter Lösungsbeispiele wie der Überwachung von Rührwerksantrieben zeigte der Verbindungsspezialist, wie sich der in der NOA beschriebene 2. Kanal und das neue Dateninformationsmodell nutzen lassen, um solche Lösungen aufzubauen. Die Antriebsapplikation, die bei der BASF in Schwarzheide realisiert wurde, basiert auf der Messung der Stromaufnahme des Motors und einem Algorithmus, der unter Zuhilfenahme weiterer Prozessinformationen Lagerschäden erkennt. Doch nicht immer lässt sich der Nutzen solcher Digitalisierungsprojekte von vornherein quantifizieren, so die Erfahrung von Ulrich Leidecker, President Business Area Industry Management and Automation bei Phoenix Contact: „Manchmal kommen die Ideen, was man mit der Digitalisierung erreichen kann, auch erst bei der Umsetzung.“

Aufzeichnung des Sponsor-Vortrags der Namur-Hauptsitzung 2019:

 

Vernetzung schafft neue Herausforderungen

Doch neue Technologien zur Vernetzung ermöglichen nicht nur neue Anwendungen, sondern schaffen auch neue Herausforderungen: „Cybersecurity ist ein wesentlicher Baustein, um die Vernetzung weiter voranzubringen“, verdeutlichte beispielsweise Phoenix-Contact-CEO Frank Stührenberg, und Roland Bent, CTO des Unternehmens, präzisierte am Beispiel des Hype-Themas 5G, dass auch hier die aus der IT kommende Technik erst einmal an die Anforderungen der Prozessindustrie angepasst werden muss.

Die Anforderungen an die neuen Techniken formulierte Ronny Becker vom Prüflabor bei Bilfinger in Frankfurt Höchst: „Wir brauchen Security-Maßnahmen für Connectivity, die Plug-and-Play funktionieren.“ Denn mit dem NOA-Seitenkanal kommen auf die Automatisierungsingenieure neue Aufgaben zu: „Diese müssen sich jetzt auch mit Gateways und Datenverbindungen nach draußen beschäftigen“, begründet Becker. In einem seit 2017 laufenden Projekt erforscht Becker zusammen mit seinen Kollegen für die Interessengemeinschaft Regelwerke Technik (IGR) in einer Demo-Anlage nicht nur die NOA-Connectivity, sondern auch Applikationen und Security-Aspekte: „Dort haben wir gesehen, dass sich effektive Connectivity-Lösungen inzwischen herauskristallisieren“, so Becker. Auch das Diagnosemonitoring funktioniert. Allerdings bereiten den Testern externe Monitoringlösungen Kopfzerbrechen: Wenn bei einer Pumpenüberwachung beispielsweise Rohdaten in die Cloud übertragen werden, sind Bandbreiten von rund 7 Mbit/s und pro Pumpe notwendig. Zudem sind in solchen Anwendungen die Security-Maßnahmen der Anbieter oft nicht bekannt, und im Hinblick auf die Langlebigkeit der Anlagen und Anwendungen in der Prozessindustrie sind auch Life-Cycle-Konzepte für die neuen und komplexeren Connectivity-Lösungen in Richtung Cloud notwendig.

Neue Zuständigkeiten für IT und OT

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Drei Szenarien beschreiben die mögliche Rollenverteilungen zwischen IT und OT in der Digitalisierung von Unternehmen der Prozessindustrie.

Ein Zielkonflikt, für den die Prozessautomatisierer nach Lösungen suchen: „Die Kunden erwarten, dass wir neue Technologien für sie schneller verfügbar machen. Gleichzeitig müssen wir Anlagenlaufzeiten von 10 bis 15 Jahren realisieren“, verdeutlicht Felix Hanisch. Bei den Chemiekonzernen Bayer und BASF stellt man sich deshalb die Frage nach den künftigen Zuständigkeiten von IT und OT. Während im klassischen Modell die produktionsnahen Bereiche Feld, Prozessleit- und MES-Ebene vom Betrieb (OT) verantwortet werden, übernimmt beim Lieferkettenmodell die IT bereits oberhalb der Feldebene die Verantwortung – d. h. vom Prozessleitsystem bis zur ERP-Ebene. Für dieses Modell hat sich beispielsweise Bayer entschieden und wird dazu eine neue IT-Organisation schaffen. Bei der BASF geht man einen anderen, dritten Weg: Dort soll künftig die OT für den kompletten Lebenszyklus vom Feld bis in die ERP-Ebene verantwortlich zeichnen: IT und OT-Themen werden dazu im Bereich Digitalisierung zusammengefasst.

In der Namur soll dazu die neue Arbeitsgruppe „IT infrastructure & platform for OT applications“ entstehen. „Der Vorstand muss sich in diesem Zusammenhang mit der Frage beschäftigten: Wie bleiben wir als Namur in diesem Umfeld relevant?“, erklärt Hanisch und hat auch bereits eine Lösung parat: „Wir müssen den wirtschaftlichen Nutzen der Namur-Arbeit wieder sichtbar machen.“

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