Von Null auf zwölf Milliarden in 17 Monaten. Mit dieser Kurzbilanz lässt sich erahnen, welcher Kraftakt der Pharmaindustrie in Sachen Covid-Impfstoff seit Dezember 2020 gelungen ist.
Denn erst am 21. Dezember 2020 – rund ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie im chinesischen Wuhan – war in Europa der erste Impfstoff zugelassen und seither wurden weltweit 11,6 Mrd. Dosen Covid-19-Vakzine verimpft. 11,6 Mrd. Impfdosen stehen aus Sicht der Hersteller auch für ein Milliardengeschäft – abzulesen an den Umsatzzahlen und den Veränderungen im Ranking der 20 größten Pharmakonzerne der Welt. Und kein anderes Unternehmen hat derart stark vom Impfstoff-Verkauf profitiert, wie der US-Konzern Pfizer: Der Pharmahersteller, der den von Biontech in Mainz entwickelten Impfstoff Comirnaty partnerschaftlich produziert und vermarktet, verdoppelte seinen Umsatz in 2021 auf 81,29 Mrd. US-Dollar. Das Vakzin spülte Pfizer 37 Mrd. Dollar in die Kasse und katapultierte den Konzern auf Platz 2 des Rankings der weltweit größten Pharmaunternehmen.
From Zero to Hero
Wie groß die Chancen für junge und wenig bekannte Unternehmen sein können, verdeutlichten Biontech und Moderna. Hatte der Biopharmahersteller aus Mainz für 2020 noch 549 Mio. US-Dollar Umsatz ausgewiesen, vermeldete das 2008 gegründete Unternehmen für 2021 einen Zuwachs um 2.200 % – 22.44 Mrd. USD erwirtschaftete der Hersteller mit Comirnaty und katapultierte sich damit aus dem Stand auf Platz 18 der umsatzstärksten Pharmaunternehmen der Welt.
Ähnlich auch die Erfolgsstory des Konkurrenten Moderna: Von 803 Mio. USD in 2020 stiegen die Um-sätze des Biotech-Unternehmens aus Cambridge, Massachusetts, auf 18,47 Mrd. Dollar. Beide Newcomer ließen damit etablierte Branchengrößen wie Teva oder Biogen hinter sich.
Die Covid-Impfstoff-Erfolgsstory wird mit einem weiteren Zahlenvergleich noch beeindruckender: In einem normalen Grippejahr und zusammengenommen mit allen sonstigen Impfungen gegen die rund 30 impfpräventablen Krankheiten wurden vor Corona lediglich 5,5 Mrd. Dosen verschiedener Impfstoffe verabreicht, schätzt die Weltgesundheitsbehörde WHO. Knapp die Hälfte der allein zwischen Dezember 2020 und April 2021 verabreichten Dosen von Covid-19-Vakzinen. Dass dies möglich wurde, hängt an mehreren Faktoren, die die Pharmaindustrie auf Dauer verändern könnten.
Plattformkonzepte beschleunigen Produktion und Entwicklung dramatisch
Zunächst einmal das Thema Entwicklung: Im Frühjahr 2020 hatte niemand für möglich gehalten, dass noch im selben Jahr ein Impfstoff gegen Covid-19 in der EU die Zulassung erreichen könnte. Bis zu 15 Jahre kann die Entwicklung eines Vakzins beginnend mit der Grundlagenforschung dauern. Noch im April 2020 erklärte Dr. Jens Vollmar, medizinischer Leiter für Impfstoffe bei Glaxo Smith Kline im Pharma+Food-Interview, dass Aussagen, wonach ein Impfstoff gegen Covid-19 bereits früher als in anderthalb Jahren zur Verfügung stehen könnte „reines Wunschdenken“ wäre. Zum Glück kam es anders. Möglich wurde dies einerseits dadurch, dass Impfstoffe heute auf etablierten technologischen Plattformen aufbauen. Zudem war es in der Covid-Pandemie gelungen, Entwicklungsanstrengungen unternehmens- und organisationsübergreifend zu bündeln. Dazu kam das enorme öffentliche Interesse, das wiederum zu staatlichen Förderprogrammen führte. Allein die deutsche Bundesregierung stellte im „Sonderprogramm zur Beschleunigung von Forschung und Entwicklung dringend benötigter Impfstoffe gegen Sars-Cov-2 740 Mio. Euro zur Verfügung, um drei Entwicklungsvorhaben (Curevac, IDT Biologika und Biontech) zu fördern.
Parallel dazu wurden Kooperationsvereinbarungen zwischen Unternehmen, die Impfstoffe entwickeln und solchen, die Produktionskapazitäten haben, geschlossen. So umfasst beispielsweise das Produktionsnetzwerk von Biontech und Pfizer alleine in Europa 28 Standorte, an denen der Impfstoff Comirnaty oder Bestandteile davon produziert werden. Lediglich 4 davon gehören zu den beiden Pharmaunternehmen selbst, alle anderen Produktionspartnern. Einige Beispiele: Siegfried in Hameln, Rentschler in Laupheim, Sanofi in Frankfurt, Novartis in Stein, Merck in Darmstadt oder Evonik in Hanau und Dossenheim.
Kooperation zwischen Wettbewerbern
Die Pharmaindustrie lernte sehr schnell, nicht nur wettbewerbliche Rivalitäten zu überwinden, sondern auch rasch Investitionsentscheidungen zu treffen. Denn meist wurden Produktionskapazitäten bereits aufgebaut, bevor der Impfstoff überhaupt zugelassen war. Und in starkem Maße rückte dabei auch die Standortfrage in das Zentrum: Während vor Corona eine Abwanderung der Impfstoffproduktion aus Europa nach Asien im Trend lag, spielte plötzlich räumliche Nähe eine Rolle. So ist es für die wärmeempfindlichen mRNA-Impfstoffe von Vorteil, wenn beispielsweise biotechnologische Produktion und Abfüllbetrieb in räumlicher Nähe zueinander stehen – ein Faktor, der beispielsweise den Mainzer Hersteller Biontech bewog, sein Vakzin im nahegelegenen Industriepark Höchst bei Sanofi abfüllen zu lassen. Die Pandemie hat gezeigt, dass sich solche Krisen nur „Hand in Hand“ bewältigen lassen. Das Erlernte könnte die Pharmaindustrie auch in Zukunft weiter prägen und nachhaltig verändern.
Ein weiterer wichtiger Aspekt im Impfstoff-Rennen ist die Zulassung: In Europa gibt es drei standardisierte Verfahren, die jeweils unter bestimmten Voraussetzungen eine frühzeitige Zulassung ermöglichen:
- das beschleunigte Bewertungsverfahren (accelerated assessment)
- die bedingte Zulassung (conditional marketing authorisation)
- die Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen (authorisation under exceptional circumstances).
Um die Zulassung von Covid-19-Impfstoffen zu beschleunigen, wurde das Rolling-Review-Verfahren eingesetzt: Dabei bewerten die federführenden Gutachter aus zwei Mitgliedstaaten (der Rapporteur und der Ko-Rapporteur) des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) bei der Europäischen Arzneimittelagentur
(European Medicines Agency, EMA) bereits einzelne eingereichte Datenpakete, sobald sie verfügbar sind, stellen Rückfragen und bewerten die Antworten des Antragstellers. Die erforderlichen Daten für einen vollständigen Zulassungsantrag können so nacheinander und nicht wie üblich als ein einziges, vollständiges Datenpaket eingereicht werden.
Ein Rolling-Review-Verfahren läuft solange ab, bis die Studiendaten ausreichend Evidenz liefern, um den formalen Zulassungsantrag zu ermöglichen. Der CHMP prüft, zu welchem Zeitpunkt belastbare Daten vorliegen, die eine positive Nutzen-Risiko-Abwägung erlauben und empfiehlt danach eine entsprechende Antragstellung. Die Entscheidung des CHMP über die Empfehlung zur Zulassung eines Impfstoffkandidaten an die Europäische Kommission kann anschließend vergleichsweise zügig erfolgen.
Unterm Strich wird so die Zeit bis zu einer potenziellen Zulassung zwar verkürzt, aber es werden keine Abstriche bei der Bewertung gemacht. Das Sicherheitsniveau bleibt also genauso hoch wie in dem üblichen zentralisierten Verfahren. Ein Impfstoff kann nur dann eine Zulassung erhalten, wenn der Nachweis der Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit erfolgt ist.
Kein Ende der Pandemie in Sicht
Interessant zu wissen ist, dass die Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen trotz der inzwischen verfügbaren Mengen noch längst nicht abgeschlossen ist. Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller, vfa, berichtet, dass derzeit weltweit mehr als 360 Impfstoffprojekte vorangetrieben werden. Stand Mai 2020 wurden alleine in Europa 13 Vakzine in klinischen Studien erprobt, vier davon bereits im Zulassungsverfahren bei der EMA: Valneva, Sputnik V, Sinovac und Hipra. Dazu kommt das Präparat von Sanofi/GSK, für das die klinischen Studien bereits abgeschlossen sind, und das vor der Zulassung durch die EMA steht. Das aktuelle Arsenal an Covid-Vakzinen, bestehend aus Biontech/Pfizer, Moderna, Astrazeneca, Janssen und Novavax könnte sich also binnen weniger Monate verdoppeln. Spannend ist dabei, dass nicht nur weitere mRNA-, Vektor- und Protein-basierte Imfpstoffe auf dem Weg sind, sondern mit Sinovac auch ein Impfstoff mit inaktivierten Erregern zugelassen werden soll.
Die Bemühungen zeigen, dass die Pharmaunternehmen nicht mit einem Ende der Pandemie rechnen, sondern davon ausgehen, dass Covid-19 endemisch werden wird, d.h. die Menschheit in Zukunft fortwährend begleiten wird – so wie das Grippevirus. Und weil auch die bislang verabreichten 11,6 Mrd. Dosen an Covid-19-Vakzinen erst 65,4 % der Weltbevölkerung erreicht haben (WHO, 5.5.2022), lässt sich sehr leicht erahnen, welche Dimension der Vakzinmarkt in den kommenden Jahren annehmen wird. Entsprechend werden die Produktionskapazitäten weiter ausgebaut.
Varianten halten die Hersteller in Atem
In weiten Teilen Afrikas und Asiens ist inzwischen auch nicht mehr die Verfügbarkeit des Impfstoffs ein Problem, sondern dessen Verteilung. So hat zuletzt das afrikanische Centre for Disease Control, CDC, gebeten, die Lieferung gespendeter Impfstoffe möglichst in das zweite Halbjahr zu verschieben.
Ein weiterer Aspekt sind Virusvarianten, die auch in Zukunft eine fortwährende Anpassung bestehender Präparate oder die Entwicklung neuer Vakzine erfordern wird. Viele Hersteller arbeiten aktuell fieberhaft daran, ihre ursprünglich gegen das Spikeprotein des Wuhan-Stamms entwickelten Impfstoffe an die Omikron-
Variante anzupassen. Im Fall von mRNA- und Vektor-viren-Impfstoffen wird dafür einfach der RNA- bzw. DNA-Abschnitt, der die Bauanleitung für das Spikeprotein darstellt, gegen einen Abschnitt für das Spikeprotein der Variante ausgetauscht. Danach wird der Varianten-Impfstoff in zwei parallelen Studien mit dem ursprünglichen Impfstoff verglichen, indem die Zahl der gebildeten Antikörper gemessen wird. Die Umstellung der Produktion ist im Fall von mRNA- und Vektorimpfstoffen dann vergleichsweise einfach.
Fazit: Corona hat die Pharmaindustrie auf ganz unterschiedliche Weisen verändert: Von der Entwicklung im Rahmen von Plattformen über die Beschleunigung von Zulassungsabläufen bis hin zur Produktion in großen, verteilten Produktionsnetzwerken. Schlüssel dazu ist eine intensive Kooperation zwischen allen Beteiligten – auch über Unternehmens- und Wettbewerbsgrenzen hinweg. Unternehmen, die in der Lage sind, diese Aspekte für sich zu nutzen, werden die Branche in den kommenden Jahren umkrempeln und prägen.
Entscheider-Facts
- Die Covid-19-Pandemie hat die Pharmaindustrie gravierend verändert.
- Kooperationen zwischen Entwicklern und Produzenten werden die Branche auch in Zukunft prägen.
- Das Vakzingeschäft wird für einige Anbieter zu einem bleibenden Massenmarkt.