Block mit Beschriftung und bunte Karten

(Bild: sulit.photos - AdobeStock)

Die Chemiebranche stand und steht vor zahlreichen Herausforderungen – die schleppende Weltkonjunktur, stark gestiegene Energiepreise und eine hohe Unsicherheit in der Frage zukünftiger Energiepreise, volatile Lieferketten und ein akuter Fachkräftemangel, um nur einige zu nennen. Vor allem der Fachkräftemangel bedroht nicht nur die Innovationskraft der Industrie, sondern auch die globale Wettbewerbsfähigkeit.

Und die Aussichten auf die Zukunft stimmen hierbei leider wenig optimistisch. So zeigen verschiedene Studien deutlich, dass die Lücke zwischen verfügbaren Fachkräften und den Bedürfnissen der Unternehmen weiterwächst. Die Schere geht immer weiter auseinander und so wird es in Zukunft noch schwieriger werden, das richtige Personal für strategisch bedeutende Stellen im Unternehmen zu finden.

Dieses Problem wird durch unterschiedliche Faktoren verschärft: der demografische Wandel und der damit verbundene Wegfall mehrerer 100.000 Arbeitskräfte pro Jahr, eine zunehmende Diskrepanz zwischen den erforderlichen und den verfügbaren Kompetenzen der Arbeitskräfte, sowie ein abnehmendes Interesse an naturwissenschaftlichen und technischen Berufsfeldern, was sich in immer niedrigeren Studierendenzahlen manifestiert.  

Gegensteuern fehlt noch

Ohne jeden Zweifel ist die Situation alarmierend, auch wenn an vielen Stellen der Handlungsdruck noch nicht groß genug zu sein scheint – wie sonst wäre es zu erklären, dass viele Unternehmen in der Problemanalyse zwar zustimmen aber es leider an den notwendigen Entscheidungen zum Gegensteuern fehlt. Ein Blick auf aktuelle Arbeitsmarktdaten offenbart, dass die Zahl der unbesetzten Stellen in technischen Berufen der Chemieindustrie auch weiterhin auf hohem Niveau verharrt. Die aktuellen Restrukturierungsmaßnahmen in Teilen der Industrie werden dieses Problem nur kurzfristig und partiell lindern, lösen werden sie es nicht.

Die Tatsache, dass die Situation am Arbeitsmarkt angespannt bleibt, obwohl sich die gesamtwirtschaftliche Stimmung merklich eingetrübt hat, hat auch mit spezifischen Herausforderungen in der chemischen Industrie zu tun. Einerseits führt der demografische Wandel zu einem schrumpfenden Angebot an jungen Fachkräften und andererseits erfordern die rapide technologische Entwicklung und die steigende Komplexität der Arbeitsabläufe ein ständig wachsendes Niveau an Spezialisierung und Flexibilität. Diese Faktoren führen zu einer immer größer werdenden Lücke zwischen den Anforderungen der Branche und den Qualifikationen der verfügbaren Arbeitskräfte. Darüber hinaus schreckt das Image der Chemieindustrie, das häufig mit Umweltverschmutzung und Gesundheitsrisiken in Verbindung gebracht wird, potenzielle (jüngere) Bewerber ab.

Charakter über Können

In Reaktion auf diese Herausforderungen sprechen immer mehr Unternehmen von der Notwendigkeit, ihre Einstellungskriterien zu überdenken. Der geflügelte Satz, der dies schon seit einigen Jahren beschreibt, lautet „Hire for attitude, train for skills.“ Ziel dieses Ansatzes ist es, dass man unterstellt, dass man Mitarbeitende mit der richtigen Einstellung und den notwendigen Charaktereigenschaften sucht und eventuelle fachliche Defizite durch innerbetriebliche Weiterbildung und ein gutes und strukturiertes Onboarding ausgleicht. Noch immer kommt dieser Ansatz in vielen Unternehmen einem „Tabubruch“ gleich. Sie besprechen dies zwar intern, in konkreten Recruiting Projekten besinnen sie sich dann aber doch wieder auf das traditionelle Anforderungsprofil. In fast allen Fällen setzt dieses eine einschlägige Branchen- und/oder Berufserfahrung voraus und diese wird im Einstellungsprozess dann höher gewichtet als notwendige Charaktereigenschaften.

Wird der Ansatz „hire for attiude, train for skills“ ernst genommen, müssen die traditionellen Maßstäbe durch einen höheren Fokus auf persönliche Eigenschaften und Einstellungen ergänzt oder ersetzt werden. So sind beispielsweise Anpassungsfähigkeit, Kreativität, Teamfähigkeit, Resilienz oder die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen heute Charaktereigenschaften, die bei sich immer schneller verändernden Rahmenbedingungen einen erfolgsentscheidenden Einfluss haben.

Was hilft die beste universitäre Bildung, wenn eine Führungskraft mit der Begleitung von innerbetrieblichen Veränderungsprojekten überfordert ist? Was nutzen
15 Jahre Berufserfahrung in einer vergleichbaren Position, wenn es am notwendigen Maß an Resilienz fehlt, um mit unterschiedlichen Krisen zeitgleich zielführend umgehen zu können? Was nutzt das beste Fachwissen, wenn die Anpassungsfähigkeit an eine neue Generation von Berufsanfängern und Nachwuchskräften fehlt? Es ließen sich ohne Probleme noch weitere Fragestellungen aus dem betrieblichen Alltag finden, die deutlich aufzeigen, dass die oben genannten Faktoren einen deutlich höheren Stellenwert in der Definition von Anforderungsprofilen haben sollten.

Rekrutieren neu denken

Würden Unternehmen das Motto „hire for attitude, train for skills“ stärker beherzigen und den Fokus auf Einstellung und Verhalten von potenziellen Mitarbeitenden legen, ließen sich eine ganze Reihe von Vorteilen realisieren. Mitarbeitende, die vor allem aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit und Lernbereitschaft ausgewählt werden, sind in der Regel besser darauf vorbereitet, mit dem schnellen Wandel Schritt zu halten. Langfristig können solche Mitarbeitenden dazu beitragen, eine Unternehmenskultur zu schaffen, die Offenheit für Neues, kontinuierliche Verbesserung und Teamgeist fördert.

Dies erhöht im besten Fall nicht nur die Innovationsfähigkeit von Teams, sondern stärkt auch die Bindung der Mitarbeitenden an das Unternehmen und verbessert deren Zufriedenheit. Und in Zeiten des Fachkräftemangels ist die beste Stelle, immer noch die Stelle, die ein Unternehmen erst gar nicht neu besetzen muss. Gleichzeitig öffnet ein solcher Ansatz den Markt an potenziellen Mitarbeitenden, weil Unternehmen dann nicht mehr nur in der eigenen, teilweise sehr engen Branche nach passendem Personal suchen müssen, sondern sich neue Zielbranchen zur Mitarbeitendengewinnung erschließt.

Natürlich hat das Motto „hire for attitude, train for skills“ auch seine Grenzen. So gibt es Bereiche, in denen es bestimmte Formen an Erfahrung und Vorbildung braucht. Aber hinterfragen Sie kritisch was wirklich „must-have“ ist und was eher „nice-to-have“ wäre. In vielen Fällen erleben wir, dass dieses kritische Hinterfragen unterbleibt und Unternehmen einfach das Anforderungsprofil nutzen, mit dem sie auch vor zehn Jahren schon Personal gesucht haben. Dies zu tun und diesen Ansatz damit pauschal abzulehnen, hat häufig auch mit einem gewissen Grad der Unwissenheit zu tun. Unwissenheit darüber, welche persönlichen Eigenschaften auf einer Stelle denn wirklich notwendig sind.

Wir sind überzeugt, dass die chemische Industrie in vielen Gesichtspunkten an einem Wendepunkt steht. Der Fachkräftemangel erfordert ein Umdenken in der Rekrutierungsstrategie. Wenn es gelingt, sich stärker an dem Leitsatz „hire for attitude, train for skills“ auszurichten, können nicht nur aktuelle Herausforderungen bewältigt werden, sondern es wird auch eine Grundlage für langfristigen Erfolg gelegt. Unternehmen stellen so sicher, dass sie auch in fünf bis zehn Jahren noch die richtigen Mitarbeitenden an den strategisch wichtigen Stellen sitzen haben.

Seien Sie mutig und probieren Sie es einfach aus – fragen Sie sich beim nächsten Rekrutierungsprojekt nicht „wo muss der Kandidat gearbeitet haben“ und „was muss er studiert haben“, sondern beantworten Sie die Frage „welche Eigenschaften braucht der Kandidaten, um in der Rolle langfristig wirklich erfolgreich zu sein“. Oder nehmen Sie ein weißes Blatt Papier und notieren Sie ohne selbstauferlegte Denkverbote mal welche Eigenschaften die ideale Persönlichkeit auf einer Stelle haben sollte. Sie werden sehen – solche Personen findet man in vielen Fällen auch außerhalb der eigenen Industrie. Entscheiden Sie sich aktiv für neue Perspektiven in Ihrem Unternehmen und machen sie damit einen großen Schritt zur Bekämpfung des Fachkräftemangels.

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