Zeitempfinden ist subjektiv – und immer auch relativ. Während 100 Jahre im Maßstab der Erdgeschichte nichts sind, können zehn Jahre für manche Industrie ein ganzes Zeitalter bedeuten. In der Chemie ist dies so, aber vor allem gilt das für die Pharmaindustrie. Und von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt wurde auch die Lebensmittelbranche komplett umgekrempelt.
Als das Fachmagazin Pharma+Food vor zehn Jahren gegründet wurde, spielten die großen deutschen Pharmaunternehmen in der Weltliga noch vorne mit – Hoechst bzw. Aventis gehörten dazu und auch Bayer. Dazu kamen knapp vierhundert Mittelständler, oft inhaber- oder familiengeführt. Doch die Causa Hoechst machte Schule. Besinnung auf Kernkompetenzen hieß die Devise, die der Chemieindustrie und damit mancher Muttergesellschaft forschender Arzneimittelhersteller verordnet wurde – nicht zuletzt von Heerscharen durchs Land tingelnder Berater àla McKinsey. Geschäftsfelder wurden umstrukturiert, in Teilen verkauft und dadurch immer kleiner und kleiner. Probleme mit einzelnen Präparaten – man denke nur an den Lipobay-Skandal in den USA – beschleunigten die Entwicklung zusätzlich. Am Ende hieß der größte deutsche Pharmaproduzent Boehringer Ingelheim.
Parallel dazu gingen international agierende Konzerne, wie zum Beispiel Pfizer, auf Einkaufstour und entdeckten ihre Liebe für den deutschen Pharma-Mittelstand. Denn: Mancherorts trennten sich Inhaber altershalber oder von den aufgerufenen Kaufpreisen angelockt von ihrem Engagement in der Pharmaproduktion. Die Namensliste reicht von Altana Pharma / Byk Gulden über Heumann bis hin zum Generikahersteller Hexal. Beschleunigt wurde der Prozess unter anderem durch den Aktiencrash nach dem Jahrtausendwechsel. Je kleiner, desto anfälliger für Übernahmen – so eine der späten Erkenntnisse, was wiederum zu weiteren Übernahmen führte. Und das Rad dreht sich noch weiter – oder auch wieder ein Stück zurück. Denn manchem Global Player werden in den kommenden Jahren die Patente für Blockbuster-Medikamente auslaufen – das Verkaufen von Unternehmensteilen wird dann wieder zur Cashflow-Quelle.
In der Lebensmittelbranche verlief der Strukturwandel weniger spektakulär, weil in der Regel lokal begrenzt, aber nicht minder radikal. „Billig, billig, billig“ heißt hier das Paradigma, wobei sich schon lange nicht mehr sagen lässt, ob der Verbraucher mit seinem Sparverhalten schuld ist, oder ob Discounter wieAldi & Co. den Preisdruck zuerst erzeugten. Wahrscheinlich beide. Einige Konsequenzen: Eine mittelständische Milchbranche gibt es nicht mehr, Brauereien gehören in der Regel zu internationalen Konzernen, und Unternehmen wieNestlé, Kraft Foods und Danone beherrschen in manchen Produktsegmenten den Markt. Um eine größere Wertschöpfung zu erreichen, strebt die Branche nach Produkten mit Zusatznutzen: z.B. probiotische Jogurts, Energy Drinks etc.
Und ewig lockt der US-Konsument
Im Vergleich zum Durchschnittsamerikaner ist der deutsche Arzneimittelkonsument ein Asket. Keine Nation hat einen größeren Pro-Kopf-Verbrauch an Pharmazeutika als die USA. Entsprechend lukrativ ist der nordamerikanische Markt für deutsche Arzneimittelhersteller. Doch kein Preis ohne Fleiß: Vor den Markteintritt hat die amerikanische Regierung die Gesundheitsbehörde FDA gestellt. Wer den amerikanischen Verbraucher beliefern will, muss bei der Produktion die strengen Kriterien der Food & Drug Administration einhalten. Und diese werden stetig verschärft.
Eines der beherrschenden Themen, mit denen sich die Pharmabranche im vergangenen Jahrzehnt auseinander zu setzen hatte, war die Computervalidierung nach FDA 21 CFR 11. Die wenigen Seiten, die von der Behörde 1997 dazu veröffentlicht wurden, sorgten für viel Aufregung. Denn die Beschreibung, wie elektronische Aufzeichnungen angefertigt werden müssen, damit sie Protokollen auf Papier gleichzusetzen sind, und vor allem: Was unter „elektronischen Aufzeichnungen“ zu verstehen ist, ließ jede Menge Raum für Interpretationen.
Pharma+Food hat den damit verbundenen Fragen zahlreiche Beiträge gewidmet. Und auch den FDA-Inspektoren war lange nicht klar, wie die Vorgaben in der Praxis umzusetzen sind – ein Vorschriften-Fehlstart wie aus dem Bilderbuch. Und dass sich durch ER Papier einsparen lässt, scheint spätestens bei einem Blick auf die ausufernde Qualifizierungs- und Validierungsdokumentation ziemlich zweifelhaft. „Give Me Paper“ übersetzt mancher Insider den Begriff „GMP“.
Think global, eat local
Für die Lebensmittelproduzenten im deutschsprachigen Raum spielen FDA-Regularien keine Rolle. Hier heißt es „think global, eat local“. Doch auch an der Lebensmittelindustrie ging der Zwang zur Dokumentation nicht spurlos vorüber. Die Tatsache, dass in den öffentlichen Medien heutzutage kaum noch Rückrufaktionen für von Reinigungsmitteln verunreinigte Jogurts oder andere Lebensmittel vermeldet werden, hängt mit der fortschreitenden Chargendokumentation zusammen. Und hier lernen die Branchen intensiv voneinander: Track&Trace-Lösungen erlauben inzwischen die geräuschlose Rückrufaktion. Entscheidender Unterschied zur Pharmabranche: Die Kennzeichnungsmerkmale dürfen nichts kosten, denn die niedrigen Gewinnmargen lassen das nicht zu.
Und noch ein weiterer „Megatrend“ hat im vergangenen Jahrzehnt zu tiefgreifenden Veränderungen in Pharma- und Food-Industrie geführt: Der deutlich gestiegene Automatisierungsgrad und die zunehmende Zahl an Messstellen im Prozess. Die Beweggründe sind in beiden Segmenten dieselben, allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt. Reproduzierbarkeit bei der Produktqualität gehört genauso dazu wie das Einsparen von Personal. Die Pharmaindustrie lernt von den Lebensmittelproduzenten, wie sich CIP- und SIP-Technologien zur Automation der Reinigungsprozesse nutzen lassen.
Dazu kommen die steigenden Anforderungen an die Chargendokumentation und dadurch die Notwendigkeit, Daten durchgängig zu führen. Und da der ursprünglich generalistische Ansatz von SAP für die Belange der Branchen nicht ausreichte, haben sich Branchenlösungen für Management Execution (MES) oder Enterprise Ressource Planning (ERP) etabliert.
Produktionskosten (k)ein Thema
Die Entwicklung der Anlagenausrüstung verlief in den vergangenen zehn Jahren evolutionär und nur seltenen sprunghaft. Dies hat unterschiedliche Gründe. Auf der einen Seite bremst der Sparzwang die Experimentierfreude der Lebensmittelproduzenten. Auf der anderen Seite lassen validierte Prozesse in der Pharmaindustrie kaum Spielraum für Veränderungen und damit für den Einsatz neuer Komponenten. Dazu kommt, dass für die Hersteller von Präparaten, die noch unter Patentschutz stehen, die Produktionskosten gegenüber Aufwendungen für Entwicklung und Marketing nur eine untergeordnete Rolle spielen. Doch die Zeiten ändern sich auch hier. „Operational Excellence – OpEx“ heißt das Schlagwort, unter dem Methoden der „Lean Production“ auch in der Pharmaproduktion zur Messlatte werden sollen. Und das Optimierungspotenzial ist riesig. Schlüsselfaktoren sind einerseits organisatorische Maßnahmen, andererseits der Einsatz neuer Technologien und Verfahren. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die zahllosen technologischen Entwicklungen – von „A“ wie Anlagenplanung bis „Z“ wie Zerkleinerungstechnik aufzuzählen. Diese haben wir in fundierten Artikeln beschrieben (siehe www.pharma-food.de).
Und auch noch ein weiterer Paradigmenwechsel zeichnet sich in der Pharmaindustrie zumindest auf langfristige Sicht ab: die von der FDA in ihrer PAT-Initiative angestrebte parametrische Freigabe anstelle aufwändiger Prüfprozeduren am fertigen Produkt. Auch hier nehmen die Sensorik im Prozess und durchgängige Informationsstrukturen im Unternehmen eine Schlüsselrolle ein.
Fazit: In den vergangenen zehn Jahren fanden in den hygienerelevanten Branchen Pharma, Lebensmittel und Kosmetikindustrie einschneidende Veränderungen statt. Diese wirken sich sowohl auf die Art und Weise aus, wie produziert wird, als auch auf die Ausrüstung und Organisation. In puncto Wettbewerbsfähigkeit kommt es nicht auf die Größe eines Unternehmens ankommt, sondern auf die Fähigkeit, sich anzupassen und sich auf die Veränderungen einzulassen. Und der Blick über den Tellerrand der eigenen Branche hilft dabei, von den besten Methoden zu lernen.
Der Blick über den Branchen-Tellerrand zeigt, wie sich Betriebskosten einsparen lassen