- In der pharmazeutischen Industrie müssen bei der Digitalisierung besonders komplexe Prozesse beachtet und strikte Regularien umgesetzt werden.
- Trotzdem haben viele pharmazeutische Unternehmen den ersten Schritt zur Digitalisierung bereits unternommen oder sind mitten in der Umsetzung.
- Neben Track and Trace-Anwendungen stehen digitale Methoden zur Zustandsüberwachung, der Prozessoptimierung und Datenanalyse im Fokus der Betreiber.
In der pharmazeutischen Industrie müssen bei der Digitalisierung besonders komplexe Prozesse beachtet und strikte Regularien umgesetzt werden – das kann niemand im Alleingang.
Menschen, Maschinen, Prozesse und IT – in der Fabrik der Zukunft ist alles und jeder miteinander vernetzt. Die intelligente Fertigung ist die Antwort auf ein sich immer schneller veränderndes Marktumfeld. Produkte werden individueller, Herstellungsprozesse komplexer und Chargen kleiner. Diesen Herausforderungen können Hersteller begegnen, indem sie die Produktion so ausrichten, dass sie sich schnell und immer wieder neu an sich wandelnde Anforderungen anpassen lässt. Die Grundlage für den digitalen Wandel liegt in der smarten Nutzung einer schier unerschöpflichen Menge an Daten.
Strikte Regularien machen Pharma zum Sonderfall der Digitalisierung
Verglichen mit vielen anderen produzierenden Industrien gelten in der pharmazeutischen Herstellung noch striktere Regularien. Bei Eingriffen in die Produktion werden Veränderungen an Maschinen, Prozessen und letztlich am Produkt vorgenommen. Behörden wie die US-amerikanische FDA und die EU Kommission geben zur Sicherstellung einer konstant hohen Produktqualität strenge Richtlinien vor, zum Beispiel zur sogenannten Guten Herstellungspraxis (Good Manufacturing
Practice, GMP). Entsprechend zurückhaltend sind Unternehmen bei der Implementierung einer neuen, nicht erprobten Technologie.
Trotzdem haben viele pharmazeutische Unternehmen den ersten Schritt zur Digitalisierung bereits unternommen oder sind mitten in der Umsetzung. Die Rede ist von der Serialisierung mittels Track and Trace-Anwendungen – zumindest, wenn eine übergreifende Lösung genutzt wird. Denn um allen gesetzlichen Richtlinien zu entsprechen, reicht es nicht aus, einen Data Matrix Code auf Faltschachteln aufzudrucken. Eine holistische Serialisierungs- und Aggregationslösung sollte die Verbindung zwischen Maschinen und Software beinhalten, damit der gesamte Prozess einheitlich steuerbar ist und die Daten jederzeit abrufbar sind. Nur so erhalten Hersteller und die Ausgabestellen einen genauen Überblick über alle Prozessschritte – und schaffen gleichzeitig eine Vernetzung im Sinne von Industrie 4.0.
Einstieg auch in kleinen Schritten
Ist die Implementierung einer Serialisierungslösung schon eine enorme Herausforderung, kommen im nächsten Schritt noch ganz andere Hürden auf Pharmaunternehmen zu: Während Track and Trace-Anwendungen sich auf die Verpackung konzentrieren, greifen andere Instrumente unmittelbar in den Produktions- oder Abfüllprozess ein. Entsprechend sind auch die Anforderungen pharmazeutischer Hersteller an neue Industrie 4.0-Lösungen besonders hoch. Sie brauchen unter anderem die Sicherheit, dass eine Lösung erfolgreich im Markt eingeführt werden kann oder bereits eingeführt wurde.
Ein Digitalisierungsprojekt nimmt Einfluss auf zahlreiche Abläufe und Komponenten. Das kann und sollte keiner alleine umsetzen. Vielmehr geht es bei der Digitalisierung darum, die jeweiligen Kompetenzen und Erfahrungen projektübergreifend zusammenzuführen. Dazu zählt das Engagement in überregionalen Initiativen. Vor allem aber sollten Anlagenlieferanten, Softwarehersteller und Prozessexperten eng zusammenarbeiten, um für die Kunden das Beste aus Industrie 4.0 herauszuholen. Dabei müssen Unternehmen nicht gleich in einen komplett neuen Maschinenpark investieren oder ihre gesamte Fertigungsphilosophie überdenken. Ein Einstieg in kleinen Schritten ist oft die sinnvollere Alternative.
Vorhandene Daten sichtbar machen und nutzen
Zunächst geht es darum, die vorhandenen Daten überhaupt sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck empfiehlt sich eine Einstiegslösung wie die Pharma i 4.0 Starter Edition von Bosch. In dieser erhalten Anlagenbetreiber die Funktionen für Condition Monitoring, Event Tracking sowie die Ermittlung der Gesamtanlageneffektivität (OEE) auf ihren mobilen oder stationären Endgeräten, inklusive komplettem Audit Trail bei allen Nutzerinteraktionen. Ob es um Abweichungen in der laufenden Produktion oder unerwartete Stillstände geht – Mitarbeiter können die für ihren spezifischen Fall relevanten Daten jederzeit dort abrufen, wo sie sich gerade innerhalb der Produktion befinden. Das vereinfacht ihren Arbeitsalltag erheblich. Die mit der Software erhobenen Daten lassen sich anschließend auswerten und gezielt für Prozessoptimierungen nutzen. Dazu gehören auch historische Daten, die sich mit den Echtzeitdaten vergleichen lassen und wichtige Aufschlüsse über die Entwicklung zentraler Parameter, etwa der OEE innerhalb eines bestimmten Zeitraums, geben.
Der Anbieter arbeitet hierfür mit einem Software-Partner zusammen, der bereits zahlreiche Lösungen im Feld – auch in der Pharmaindustrie – installiert hat, und appliziert die Software entsprechend der spezifischen Anforderungen und Begebenheiten der jeweiligen Kunden. Dank der Verwendung offener Standards muss bei der Implementierung von Maschinen und Linien unterschiedlicher Hersteller das Rad nicht neu erfunden werden. Als Standard für Kommunikation und Datenaustausch wird vorzugsweise auf OPC-UA und die Maschinen-programmierung Pack ML zurückgegriffen. Auch eine Erweiterung der Funktionalitäten, etwa um die Generierung von Electronic Batch Records (EBR), ist möglich – denn auch hier unterliegen sämtliche Prozessschritte strikten Vorschriften hinsichtlich elektronischer Signaturen, GMP-konformen Prozessen und einer pharmazeutisch korrekten Langzeitarchivierung der Daten.
Data Mining ermöglicht es, Optimierungspotenziale zu erschließen
Liegen die Daten vor, besteht die höchste Kunst darin, bislang unbekannte Informationen und somit Optimierungspotenziale zu identifizieren. Unter Anwendung statistischer Methoden werden mittels Data Analytics oder Data Mining große Datenmengen auf Effekte und Zusammenhänge untersucht. Grundsätzlich reichen bereits Daten aus zwei Produktionschargen, um erste Rückschlüsse zu ziehen. Je mehr Daten für die Evaluation zur Verfügung stehen, desto mehr Details lassen sich ermitteln. Dazu benötigt es lediglich Sensoren, die auch bei den meisten älteren Maschinen bereits Daten erfassen, und das passende Werkzeug, um die Daten ans Licht zu holen. Die wichtigste Rolle spielt aber die Kombination aus umfangreicher Prozess-Expertise und IT-Wissen.
Ein Beispiel aus der Praxis: Ein pharmazeutischer Hersteller hatte plötzlich ein „out of specification“ (OOS) Batch. Die Datenanalyse ergab, dass ein bestimmtes Ventil für die Abweichung verantwortlich war. Im Vorfeld wurde das Ventil jedoch ausgeschlossen, da es in Bezug auf die Produktqualität als unkritisch eingestuft wurde. Die tieferen Zusammenhänge wurden analysiert und eine bislang nicht bedachte Verkettung erkannt. Schließlich ergab die Analyse, dass das Ventil einen indirekten Hinweis auf einen falschen Gasstrom im System lieferte, der nicht offensichtlich zu sehen war. Durch eine Rekalibrierung des Systems ließ sich das Problem leicht lösen.
Augmented und Virtual Reality in Trainings und im Prozess nutzen
Noch leichter könnte eine solche Rekalibrierung schon in naher Zukunft dank Augmented und Virtual Reality (AR und VR) ablaufen. AR-Anwendungen beispielsweise führen die Mitarbeiter Schritt für Schritt durch den Prozess und zeigen Kalibrierarbeitsanweisungen und Ersatzteile an. Das beschleunigt den Prozess erheblich – ganz ohne aufwendige Schulungen. Ist für komplexere Prozesse doch ein Training erforderlich, muss dieses nicht mehr in einem Seminarraum oder in der Werkshalle durchgeführt werden. Mit VR-Anwendungen lassen sich 3D-Simulationen von Maschinen für virtuelle Trainingssessions unter nahezu echten Bedingungen nutzen. Trainer haben die Möglichkeit, die Simulation live mitzuverfolgen und unmittelbar unterstützende Anweisungen zu geben. Bediener können sicher und in Ruhe üben, da Fehler keine direkten Konsequenzen haben und der laufende Prozess nicht unterbrochen wird.
Fazit: Zwar befinden sich einige dieser Industrie 4.0 Anwendungen noch in einem recht frühen Entwicklungsstadium. Die digitale Zukunft ist trotzdem zum Greifen nahe, da die benötigten Devices wie Sensoren immer kleiner und Komponenten günstiger werden. Um die Vision der vernetzten Pharmaindustrie Schritt für Schritt im täglichen Produktionsalltag zu realisieren, braucht es starke Partnerschaften. Nur durch die Zusammenarbeit von Anlagenherstellern, Softwareentwicklern, Prozessexperten und den Mitarbeitern auf dem Shopfloor lassen sich die Herausforderungen der Digitalisierung erfolgreich und nachhaltig meistern.