
Bei der Markteinführung neuer Medikamente steht für Entwickler und Investoren viel Geld auf dem Spiel und manchmal werden die Erwartungen bitter enttäuscht. (Bild: Nito – Adobe Stock)
Auf dem Weg vom ersten Wirkstoff-Kandidaten bis zum zugelassenen Medikament kann eine Menge passieren. Schon während der Entwicklung eines Arzneimittels müssen die forschenden Unternehmen den größten Teil der möglichen Wirkstoffe aussortieren, etwa wenn die erforderliche pharmazeutische Reaktion eines Präparats ausbleibt, eine Injektion zu starke unerwünschte Nebenwirkungen hervorruft oder eine Tablette schlicht nicht so gut wirkt wie erhofft, oder gar weniger gut als ein Konkurrenzprodukt.
Enttäuschte Erwartungen der Analysten
Die Entwicklung eines Medikaments verschlingt enorme Kosten, und ein gescheitertes Medikament wird diese Kosten nie wieder einholen können. Auch deshalb kommt es den Pharmakonzernen auf eine schnelle Markteinführung an: nicht nur, um Entwicklungskosten auszugleichen und weitere Forschung zu finanzieren, sondern auch die Kosten vergangener oder zukünftiger Fehlschläge abzufedern.
Dass selbst zugelassene Arzneimittel die Erwartungen der Entwickler – und insbesondere der Börsen-Analysten und Investoren – überraschend oft enttäuschen, zeigt ein Bericht des Beratungsunternehmens L.E.K. Consulting. Dieser sogenannte L.E.K. Launch Monitor besagt, dass rund 40 % aller zwischen 2004 und 2016 zugelassenen Medikamente in den ersten drei Jahren nach der Zulassung die von Analysten prognostizierten Umsätze um mehr als 20 % verfehlt haben. Tatsächlich erreichte nur ein Fünftel der neuen Medikamente auf dem US-Markt einen Umsatz von 1 Mrd. US-Dollar, und mehr als die Hälfte brachte weniger als 250 Mio. Dollar ein.
Marktenttäuschungen fanden sich dabei in vielen Therapiebereichen, einige Felder stachen jedoch hervor. Beispielsweise blieb die Hälfte der neuzugelassenen Herz-Kreislauf-Medikamente in den ersten drei Jahren hinter den Erwartungen zurück, ebenso wie die Hälfte der Immunologie-Präparate. Auch Arzneimittel gegen Infektionskrankheiten waren schwach, rund 48 % erfüllten die gestellten Erwartungen nicht. Etwas erfolgreicher waren Medikamente gegen Krebs, hier verfehlten 38 % der Arzneimittel die Erwartungen. Aus diesem Bereich stammten mit 82 Medikamenten auch die meisten der insgesamt 450 im Bericht betrachteten Kandidaten.
Größer ist besser
Bei der Ursachenforschung deckt der L.E.K.-Bericht einen wichtigen Trend auf: Offenbar sind große Konzerne tendenziell besser als kleine Startups in der Lage, neue Produkte erfolgreich zu vermarkten. Der von den Pharmariesen generierte Spitzenumsatz liegt im Schnitt 50 % höher als das, was die kleineren Unternehmen erwirtschaften können. Die Größe eines Riesenkonzerns gelte oft als Hindernis für Innovationen, urteilt das Beratungsunternehmen, „aber wenn es um die Vermarktung geht, werden sie zu einem entscheidenden Faktor."
Besondere Hindernisse für die kleinen Unternehmen macht L.E.K. in den Bereichen Herz-Kreislauf, Infektionskrankheiten und Immunologie aus. Hier müssen sie ihre neuen Medikamente sowohl Allgemeinmedizinern als auch Fachärzten anbieten, wobei oft dazu neigen „die Herausforderung zu unterschätzen, das Verschreibungsverhalten einer großen und uneinheitlichen Gruppe von Ärzten zu schulen und zu ändern." Besonders solche Unternehmen sollten darum ihre Strategie im Umgang mit Analysten und Umsatzprognosen für neue Arzneimittel überdenken, „da die negativen Auswirkungen einer verfehlten Prognose schwerwiegend sein können, insbesondere für ein kleines Biotech-Unternehmen, das sein erstes Produkt auf den Markt bringt.
Zum Teil sieht L.E.K. allerdings auch Ursachen bei den aufgestellten Umsatzerwartungen, die häufig verfrüht aufgrund vorläufiger oder gar unvollständiger Studienergebnisse getroffen werden. Das Beratungsunternehmen empfiehlt, Markteinführungen frühzeitig zu planen und diszipliniert gemäß der Planung durchzuführen. Dabei sollten die Entwickler Investoren von Anfang einbeziehen. Diese verbesserte Kommunikation sowie sorgfältigere und damit präzisere Marktprognosen sollen überzogene Erwartungen eindämmen.
Fehlschläge in allen Bereichen
Der Branchendienst Fiercepharma hat anhand des Launch Monitor 10 der größten Fehlschläge identifiziert. In der Liste vertreten sind sowohl große Pharmakonzerne als auch kleine Biotech-Startups. Die gescheiterten Präparate stammen, genau wie im Bericht von L.E.K., aus ganz unterschiedlichen medizinischen Bereichen, darunter finden sich Krebstherapien, Herz-Kreislauf-Medikamente, immunologische Präparate, Mittel gegen Infektionskrankheiten und weitere Therapiefelder. Aufgrund der aktuellen Lage ausdrücklich nicht berücksichtigt sind Entwicklungen gegen Covid-19. Genauso vielfältig wie die Indikationen sind die Ursachen des Scheiterns, von Fehlern im Management bis zu plötzlich auftretenden Sicherheitsbedenken. Klicken Sie sich durch die Liste:
Bilderstrecke: Die Top 10 der gescheiterten Medikamente

Beovu, ein Medikament von Novartis gegen altersbedingte Makula-Degeneration, eine bis zu Blindheit führende Erkrankung der Netzhaut, sollte den Blockbustern der Konkurrenz –Eylea von Regeneron, Lucentis von Roche – Marktanteile abjagen. Nach der Zulassung im Oktober 2019 sollte das Mittel bis 2021 rund 4,38 Mrd. US-Dollar einfahren. Jedoch stellten sich die Sicherheitsrisiken im Vergleich zu den Wettbewerbern als größer heraus – übrig blieb ein vergleichsweise magerer Umsatz von nicht einmal 300 Mio. Dollar. (Bild: Axel Kock – Adobe Stock)

Die breite Öffentlichkeit ist erst durch Covid-19 damit vertraut, dass Impfstoff-Zulassungen große Erwartungen wecken können – in der Pharmabranche ist dies schon länger geläufig. Ein Hoffnungsträger war Dengvaxia, ein von Sanofi für rund 1,5 Mrd. Dollar und über einen Zeitraum von fast 20 Jahren entwickelter Impfstoff gegen Dengue-Fieber. 2015 erfolgten die ersten Zulassungen, 2020 war der erzielte Umsatz so irrelevant gering, dass Sanofi ihn in der Bilanz nicht einmal in separaten Zahlen aufschlüsselte. Auch hier erfolgte der Genickbruch durch Sicherheitsbedenken, die in einen handfesten Skandal mündeten. Beispielsweise beendeten die Philippinen ihr Impfprogramm mit dem Wirkstoff und verlangten eine Erstattung der Kosten. (Bild: Alexey Novikov – Adobe Stock)

Pfizer steckte 2016 5,2 Mrd. USD in die Übernahme von Anacor Pharmaceuticals. Besonders interessiert war der Konzern an dem Wirkstoff Crisaborol gegen atopische Ekzeme. Die klinischen Studien verliefen gut, und die erste Zulassung des Medikaments unter dem Namen Eucrisa erfolgte wenige Monate nach der Übernahme von Anacor. Pfizer wollte vor allem Kinder und Jugendliche mit dem Mittel bedienen, hatte aber die Rechnung auf bis zu 2 Mrd. USD Jahresumsatz ohne die Konkurrenz gemacht: Kurz nachdem Eucrisa für Kinder und Jugendliche zugelassen wurde, erhielt das von Sanofi und Regeneron entwickelte Medikament Dupixent die gleiche Zulassung, und übertraf den Pfizer-Wirkstoff in fast jeder Hinsicht. Auch das Merketing zur Markteinführung scheiterte, Eucrisa brachte in den ersten drei Jahren nach der Zulassung zusammengerechnet nur etwas mehr als 350 Mio. USD Umsatz – weit entfernt von den erhofften 2 Mrd. pro Jahr. (Bild: Ольга Тернавская – Adobe Stock)

Das vom US-Konzern Eli Lilly entwickelte Krebsmedikament Lartruvo hatte vor seiner Zulassung 2016 noch eine Sonderbehandlung der FDA bekommen: Das Mittel gegen das sogenannte Weichteilsarkom ging im Eilverfahren zur Zulassung. Die Umsätze von 203 Mio. USD im Jahr 2017 und 305 Mio. USD 2018 versprachen mehr für die kommenden Jahre. Allerdings ließen sich wichtige Ergebnisse aus Phase-3-Studien nicht bestätigen – Lartruvo brachte in Kombination mit etablierter Chemotherapie keinen Vorteil gegenüber der Chemotherapie allein. Im September 2019 zog Eli Lilly das Arzneimittel vom Markt, nachdem sowohl die FDA als auch die EMA von dessen Einsatz abgeraten hatten. Im Bild schematisch dargestellt ist das Ziel-Protein des Medikaments, der "Platelet derived growth factor receptor". (Bild: molekuul.be – Adobe Stock)

Das Antipsychotikum Nuplazid von Arcadia Pharmaceuticals hatte es schon wegen Sicherheitsbedenken nicht leicht, überhaupt eine Zulassung durch die FDA zu ergattern, die 2016 dann doch erfolgte. Trotz dieser Startschwierigkeiten sagten Analysten dem Medikament gegen Halluzinationen bei Parkinson-Patienten bis 2020 einen möglichen Blockbuster-Status mit einem Spitzenumsatz von 841 Mio. USD voraus – schwere Nebenwirkungen seien bei Antipsychotika zu erwarten. Rund zwei Jahre nach der Zulassung erschütterten jedoch Medienberichte über hunderte von Todesfällen durch Nuplazid das Vertrauen in das Medikament gänzlich. Misserfolge in klinischen Studien folgten, und Arcadia erwirtschaftete 2020 mit dem Mittel gerade mal halb so viel wie erhofft. (Bild: Ocskay Bence – Adobe Stock)

Ursprünglich hatte Hersteller Intercept Pharmaceuticals sein Medikament Ocaliva entwickelt, um eine fortschreitende Verfettung der Leber bei chronischem Übergewicht zu behandeln – ein extrem lukrativer Markt, und Analysten räumten Intercept Chancen auf Umsätze bis zu 8,6 Mrd. USD ein. Die FDA ließ sich jedoch bislang nicht von der Wirksamkeit von Olicava bei dieser Art von Erkrankung überzeugen, und hat das Mittel allein gegen die seltene primär biliäre Cholangitis zugelassen, eine Autoimmunerkrankung der Leber. Damit ließen sich im Jahr 2020 rund 313 Mio. USD umsetzten – enttäuschend, verglichen mit den Milliardenhoffnungen. (Bild: Kateryna_Kon – Adobe Stock)

Rubraca, ein Medikament gegen Eierstock- und Prostata-Krebs von Clovis Oncology, trat Ende 2016 gegen starke Konkurrenz an: Astrazeneca und Merck&Co hatten gemeinsam bereits zwei Jahre früher das vergleichbare Lynparza zur Zulassung gebracht. Im März 2017 folgte mit Zejula von Tesaro ein weiterer Wettbewerber. Trotzdem zeigten Marktanalysen, dass Rubraca signifikante Marktanteile gewinnen und im Jahr 2021 immerhin bis zu 663 Mio. USD einbringen könnte. Diese Analysen waren ganz offensichtlich falsch: Rubraca verlor das Rennen um Längen und erzielte in der ersten Jahreshälfte 2021 einen Umsatz von knapp 75 Mio. USD, Lynparza brachte im selben Zeitraum mehr als eine Milliarde. Bei beiden Mitteln handelt es sich um Hemmstoffe gegen das dargestellte Enzym Poly-(ADP-ribose)-Polymerase 1 (PARP-1). (Bild: molekuul.be – Adobe Stock)

Mit der Beteiligung an Lynparza war Merck&Co noch erfolgreich, doch eine andere Partnerschaft war weniger gesegnet. Das zusammen mit Pfizer entwickelte Arzneimittel Steglatro gegen Typ-2-Diabetes kam 2017 auf einen Markt, in dem mehrere große Pharmakonzerne schon Jahre zuvor mit Blockbustern abgeräumt hatten. Den Entwicklern gelang es nicht, Therapien mit Steglatro gegenüber diesen starken Wettbewerbern abzuheben, trotz deutlich niedrigerer Preise. Der wahrscheinliche Todesstoß für Steglatro kam schließlich mit dem keine drei Wochen später zugelassenen Ozempic von Novo Nordisk, das aufgrund deutlich besserer Studienergebnisse 2020 über 3 Mrd. USD einbrachte. Merck&Co / Pfizer haben für Steglatro gar nicht erst Zahlen veröffentlicht. (Bild: zlikovec – Adobe Stock)

Der Cholsterol-Senker Vascepa von Amarin war bereits sieben Jahre auf dem Markt, als eine weitere FDA-Zulassung große Umsatzhoffnungen lostrat: Das auf Fischöl basierende Medikament war 2019 die erste zugelassene Alternative für Patienten, bei denen die etablierten Statine keine Wirkung zeigen. Allerdings kassierte schon 2020 ein US-Gericht Amarins Patent für Vascepa, das lediglich zu 100% aus der Omega-3-Fettsäure Eicosapentaensäure besteht. Das Gericht sah keine ausreichende Besonderheit für ein Patent. Mittlerweile sind erste Generika auf dem Markt, und mit solch günstigen Alternativen ist Vascepa von den für 2020 angepeilten 1,5 Mrd. USD fast eine Milliarde weit entfernt geblieben. (Bild: Africa Studio – Adobe Stock)

Kurz vor der EU-Zulassung im Juni 2019 galt die Gentherapie Zynteglo des Biotech-Startups Bluebird Bio noch als einer der Top-Titel des Jahres, bis 2024 sollten die Jahresumsätze auf 1,87 Mrd. USD klettern. Aber die Markteinführung der Therapie gegen die Blutkrankheit Beta-Thalassämie stand unter keinem guten Stern: Erst verlangte die europäische Behörde EMA Nachbesserungen an den Spezifikationen. Nach weiteren Verzögerungen erhielt schließlich im Februar 2020 in Deutschland der erste Patient eine Injektion der Gentherapie – praktisch mit Einsetzen der Covid-Pandemie. Hinzu kamen Verdachtsfälle aus klinischen Studien, dass Zynteglo das Blutkrebs-Risiko steigern könne. Als noch größerer Stolperstein für Milliardenumsätze erwiesen sich nicht zuletzt die Bedenken, dass keine Versicherung die von Bluebird veranschlagten 1,5 Mio. Dollar für die Therapie übernehmen würde. In Deutschland scheiterte das Unternehmen mit einem vorgeschlagenen Fünjahresplan zur Finanzierung und zog das Medikament vom deutschen Markt. Eine US-Zulassung durch die FDA steht noch aus, bislang hat Zynteglo noch keine Einnahmen generiert. (Bild: vchalup – Adobe Stock)
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