
Die Entwicklung neuer Medikamente hat in der Regel einen langen Zeithorizont zwischen sieben und zehn Jahren. (Bild: Boehringer Ingelheim)
Entscheider-Facts
- Agile Produktentwicklung ersetzt projektbasierte Ansätze in der Pharmabranche.
- Durch die Integration verteilter Daten entsteht eine zentrale Plattform für fundierte Entscheidungen.
- Strenge regulatorische Anforderungen erfordern eine strukturierte, schrittweise Transformation.
Die Entwicklung neuer Medikamente hat in der Regel einen langen Zeithorizont – zwischen sieben und zehn Jahren. Ein übergreifendes Ziel der Pharmaunternehmen ist, diese Entwicklungszeit verantwortungsvoll zu verkürzen, um Patienten schneller versorgen zu können – vor allem in Bereichen, in denen es noch keine passenden Therapiemöglichkeiten gibt. Die Transformation hin zu einer produktgetriebenen agilen Organisation kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. In der Pharmabranche ist heute allerdings eine projektorientierte Herangehensweise noch weit verbreitet. Das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim hat sich, um seine digitale Lösung One Medicine Analytics gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen Eraneos agil zu entwickeln, auf das Abenteuer der agilen Produktentwicklung eingelassen.
Silodenken aufbrechen
One Medicine Analytics ist ein digitales Ökosystem für die Medizin, um Advanced-Data-Analytics zu realisieren und auf dieser Basis Entscheidungen treffen zu können. Volker Rothenbacher, als Product Manager in der Abteilung „Clinical Development and Operations“ am Transformationsprozess beteiligt, erinnert sich: „Die größte Herausforderung für uns war am Anfang die Veränderung des Mindsets innerhalb der beteiligten Abteilungen, denn man begegnet oft noch dem Denken in Silos. Wir wollten eine agile, performante Lösung für die hochkomplexe Daten-Landschaft in der Medizin, die es uns ermöglicht, schnelle Antworten auf operationale Fragen zu bekommen, um damit die Entscheidungsfindung in der klinischen Entwicklung zu beschleunigen und zu verbessern. Wir merkten schnell, dass die Antwort nicht darin lag, einfach eine große IT-Plattform zu kaufen. In One Medicine Analytics sahen wir eine Möglichkeit, die vielen kleinen Reporting-Silos zusammenzufassen.“
Es ging darum, abteilungsübergreifend für den Fachbereich Medizin eine passende Infrastruktur aufzubauen. Somit hat das Unternehmen es nicht mit einer technischen, sondern mit einer Business-Transformation zu tun, die alle Bereiche betrifft. „Das Management unterstützte diese Veränderung. Aber uns fehlten die praktischen Konzepte und auch personelle Kapazitäten im skalierten Umfeld. Um hier an den Start zu kommen, waren die Erfahrung, die Ressourcen und die Expertise der Berater von Eraneos sehr wertvoll.”
Das Innovationsdilemma
Die Akteure der Branche stehen vor einem Innovationsdilemma: Neue Therapeutika zu entwickeln, wird immer komplizierter, teurer und aufwendiger. Gleichzeitig gibt es nicht genug Innovation. Ein möglicher Ansatzpunkt, um diese Situation zu entschärfen, liegt darin, die Entwicklungszeit neuer Medikamente zu verkürzen.
Die Grundidee: Der Entwicklungsprozess müsste sich messbar verkürzen, wenn sich bestimmte Aspekte auf Basis von Datenanalysen durch Algorithmen vorhersagen ließen. Das Pharmaunternehmen reinvestiert insgesamt etwa 20 % des Gewinns wieder in Forschung und Entwicklung. Davon profitieren am Ende die Patientinnen und Patienten: Sie erhalten Medikamente früher und seltene Erkrankungen können erforscht werden. Denn eine kürzere Entwicklungszeit schafft Kapazitäten, um neue Therapeutika zu entwickeln.
Entwicklungszeiten verkürzen
Die Daten, die zuvor verstreut und in Silos in den Datenquellen und in den Business-Intelligence-Lösungen der verschiedenen Medizin-Abteilungen verwaltet wurden, überführte das Team auf eine neue technische, betriebliche und kulturelle Grundlage – und riss damit die Mauern zwischen den Abteilungen ein. One Medicine Analytics nutzt eine neue Infrastruktur für den Datenaustausch und ermöglicht, leicht verständlich den Längsschnitt der Prozessdaten von klinischen Studien einzusehen. So entsteht die Basis für eine funktionsübergreifende Zusammenarbeit, um mit dem unternehmensweiten Ökosystem datengestützte Entscheidungen zu treffen.
Uli Broedl, im Projektzeitraum SVP beim Pharmaunternehmen und Leiter der globalen klinischen Entwicklung und des operativen Geschäfts zu der Zeit, betont: „Wir sind immer auf der Suche nach Möglichkeiten, innovative Medikamente schneller zu den Patienten zu bringen. Diese Geschwindigkeit wird durch unsere klinischen Entwicklungsprogramme und die Technologien, die wir einsetzen, bestimmt. Bei uns steht der Patient im Mittelpunkt und die Technologie ist die Grundlage für die Durchführung unserer klinischen Studien.“

Kein Anfang und kein Ende
Werden im Rahmen der Produkttransformation digitale Projekte agil aufgesetzt, so steht deren Lebenszyklus im Mittelpunkt. Anders als bei einem Projekt gibt es keinen Anfang und kein Ende. Beim konkreten Umsetzen steht die Frage im Mittelpunkt, auf welche Weise möglichst schnell neue Features bereitgestellt werden können. Das Pharmaunternehmen stand wie viele andere vor großen Herausforderungen bei diesem Transformationsprozess und holte sich darum Hilfe bei der Unternehmensberatung mit der Kernkompetenz digitales Produkt- und Innovationsmanagement:
- Pharmaunternehmen arbeiten in einem stark regulierten Umfeld. Standards und Dokumentationsanforderungen einzuhalten, kann in der Praxis mit den agilen Grundsätzen, die auf Flexibilität und Reaktionsfähigkeit setzen, in Konflikt geraten.
- Die Qualität sicherzustellen und digitale Produkte zu validieren, ist von entscheidender Bedeutung. Agile Praktiken müssen möglicherweise angepasst werden, um die strengen Validierungsanforderungen zu erfüllen, ohne dass Geschwindigkeit und Flexibilität beeinträchtigt werden.
- Medikamente haben aufgrund komplexer Forschungs-, Test- und Zulassungsverfahren lange Entwicklungszyklen. Agiles Vorgehen ist auf schnelle Phasen ausgelegt, so dass das Anpassen an kürzere Zeiträume bei gleichzeitigem Einhalten der Standards herausfordernd sein kann.
- Abteilungsübergreifende Zusammenarbeit: Am Entwickeln neuer Medikamente sind in der Regel Teams beteiligt, die oft unterschiedliche Arbeitsweisen – von Wasserfall bis zu Agile – nutzen, was die Zusammenarbeit erschwert. Diese ist jedoch entscheidend für den Erfolg, und ihre Ausrichtung auf agile Praktiken kann einen Kulturwandel erfordern.
Klar kommunizieren
Die zentralen Faktoren für den erfolgreichen Veränderungsprozess sind:
- Das Management muss die Transformation anleiten und unterstützen, um das Engagement der Mitarbeitenden sicherzustellen.
- Es bedarf innerhalb des Unternehmens eines gemeinsamen Verständnisses, regelmäßiger Schulungen und klarer Anleitung für die neuen Rahmenbedingungen, Rollen und Verantwortungsbereiche.
- Die Transformation wird nur gelingen, wenn sich alle Stakeholder aus den Bereichen Business und IT beteiligen.
Die Mitarbeitenden müssen darüber hinaus verstehen, was die Agilität bedeutet, und sollten sich durch den Prozess nicht überfordert fühlen. Klare Kommunikation und Vereinbarungen sind unerlässlich, und Visionen sollten in den Veränderungsfahrplan integriert werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, alle Bereiche zu erfassen und Synergien sowie die organisatorische Passung zu ermitteln. Ein ganzheitlicher Ansatz und eine verständliche Kommunikation der technischen Komponenten unterstützen die Veränderungen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit. In der Regel betrifft dies bei digitalen Produkten die Fachabteilung und die IT-Abteilung.
Andernfalls behindert silohaftes Arbeiten den agilen Prozess. Volker Rothenbacher ergänzt: „Insbesondere für das skalierte Softwarenentwicklungsprodukt One Medicine Analytics mit bis zu sechs Teams hat die Erfahrung von Eraneos uns an entscheidenden Stellen unterstützt. Hilfreich war zudem die Empfehlung, mit einem Minimal-Planungszyklus in die Startphase zu gehen. Nur so konnten wir diesen komplexen Prozess in einem großen Unternehmen wie unserem in Gang bringen.”
Agil entwickeln
Anhand von Best Practices und praktischen Erfahrungen aus vorherigen Projekten schafften die Experten der Unternehmensberatung Verständnis und Interesse für die Unterschiede zwischen Projekt- und Produktorientierung. Wichtig für die Akzeptanz bei den Mitarbeitenden war es, dass die Berater einen Mittelweg zwischen der bekannten Arbeit mit Best-Practices und dem freien agilen Vorgehen fanden. Die Transformation erfolgte in einem internationalen Kontext. Trotzdem wurden regelmäßige Präsenz-Workshops durchgeführt. Für den erfolgreichen Veränderungsprozess war es entscheidend, dass bei diesen Terminen möglichst das gesamte Team anwesend war.
In einem ersten Workshop wurde ein einheitliches Produktverständnis für die relevanten Stakeholder des Produktes geschaffen. Die Berater unterstützen dabei, ein Framework als Methodik für die Entwicklung zu erarbeiten. Ein weiteres Ziel war es, den Teamgedanken zu transportieren und zu entscheiden, wer seitens des Pharma- und des Beratungsunternehmens konkret in das interdisziplinäre Entwicklungsteam gehört. Diese initiale Phase brachte für das Arbeitsverständnis viel Veränderung, da bisherige Prozesse verworfen und neue eingeführt wurden.
Es folgte ein Planungs-Workshop, um konkrete Schritte für die nächsten drei Monate zu definieren. Anschließend haben die agilen Teams mit dem Entwickeln begonnen, und die Transformationsexperten haben die Führungskräfte aus den Bereichen Business Development und IT dabei unterstützt, rasch ein straffes und effektives Betriebsmodell für die produktorientierte Entwicklung einzuführen. Der Fokus lag darauf, gemeinsam eine klare Struktur und Arbeitsweise für das interdisziplinäre Projektteam zu entwickeln.
In jeder Stufe regelkonform
Schließlich erschuf das Team basierend auf dieser Vorarbeit das Pilotprodukt: ein Minimal Value Product (MVP). Hierbei wird die erste Ausbaustufe eines Produktes definiert, die den Nutzern zur Verfügung gestellt wird. Hintergrund ist, dass digitale Lösungen Schritt für Schritt entwickelt werden. Bereits in dieser Phase wurden Fragen des regulatorischen Umfelds relevant. Denn das Produkt muss in jeder Entwicklungsstufe mit bestimmten Regelsätzen konform sein. Im Fall von One Medicine Analytics war die Minimallösung bereits deutlich größer als im Normalfall. Die Ursache hierfür ist das regulatorische Umfeld – das Produktteam muss hier in viel größeren Schritten denken.
Volker Rothenbacher zieht folgendes Fazit: „Aus meiner Sicht ist es für den Anfang des Transformationsprozesses entscheidend, dass die Schlüsselrollen mit qualifizierten Experten besetzt sind: der Agile Coach, der Product Manager und der Solution Architect. Meine Empfehlung ist darüber hinaus: Einfach mal mit einem Minimal-Planungszyklus starten. Außerdem ist es entscheidend, das theoretische Wissen, die praktische Erfahrung und nicht zuletzt die zusätzlichen Kapazitäten externer Experten im Team zu haben. Denn die Transformation geschieht an so vielen Stellen gleichzeitig, dass unsere eigenen agilen personellen Ressourcen nicht mehr ausreichen. Und insbesondere für das skalierte Softwarenentwicklungsprodukt One Medicine Analytics mit bis zu sechs Teams hat die Erfahrung von Eraneos uns an entscheidenden Stellen ergänzt. Die Lösung wird zukünftig einen zentralen Beitrag zur Erfassung und Analyse sämtlicher Daten während der Durchführung von Studien für die Medikamentenentwicklung leisten.“ Diese sind die Grundlage für sämtliche operative Erkenntnisse – und damit sehr wertvoll für die Entwicklung neuer Produkte. Das Pharmaunternehmen ist mit diesem Transformationsprozess zum Vorreiter in der Branche geworden.
