Neuronale Netze für die Anomalieerkennung
KI-gestützte automatisierte visuelle Inspektion von Vials
Kleine Defekte, große Wirkung – fehlerhafte Stopfen können die Integrität von Arzneimitteln gefährden. Eine KI-gestützte automatisierte visuelle Inspektion unterstützt das Erkennen von Anomalien und erhöht so die Sicherheit pharmazeutischer Produkte.
Die Integrität von Stopfen ist für das aseptische Abfüllen von Vials von zentraler Bedeutung. Als primäre Verschlusselemente sind sie in direktem Kontakt mit dem Arzneimittel und müssen frei von Partikeln und Materialdefekten sein, sodass Arzneimittel über ihre gesamte Haltbarkeit hinweg sicher und stabil bleiben. Um sicherzustellen, dass diese Anforderungen nach den Vorgaben des Amerikanischen Arzneibuchs USP<1207> und EU GMP Annex 1 eingehalten werden, setzen pharmazeutische Hersteller neben der Dichtheitsprüfung auch darauf, die Behälter visuell zu inspizieren, um Partikel und kosmetische Defekte zu identifizieren.
Ziel der automatisierten visuellen Inspektion (AVI) ist, hochaufgelöste Bilddaten in Echtzeit zu erfassen und zu analysieren, sodass Abweichungen in Struktur, Oberfläche oder Material vom Stopfen sofort erkannt werden können. Auf diese Weise wird das Einhalten regulatorischer Vorgaben unterstützt und das Risiko von Kontaminationen reduziert.
Herausforderungen der Stopfen-Inspektion
Die AVI von Stopfen weist jedoch spezifische Herausforderungen auf, die sie deutlich komplexer machen als viele andere Anwendungen der Methode. Eine zentrale Schwierigkeit liegt in den optischen Eigenschaften des Glasbehältnisses: Reflexionen, Brechungen und Verzerrungen durch die Vial-Geometrie erschweren eine aussagekräftige Bildauswertung. Hinzu kommt eine hohe Varianz an Stopfen-Formaten, Materialien und Designs. Diese Heterogenität fordert das Standardisieren von Inspektionsprozessen zusätzlich und bedarf flexibler Algorithmen sowie einfach anpassbarer Inspektionen, um zuverlässige Ergebnisse zu erzielen.
In der Stopfen-Inspektion werden häufig klassische, merkmalsbasierte Verfahren eingesetzt. Dabei suchen Algorithmen gezielt nach zuvor definierten Eigenschaften wie Kanten, Konturen, Kontrasten oder Texturen.
So sind zum Beispiel Kanten wesentlich, um den Übergang zwischen Stopfen und Vial eindeutig zu bestimmen. Da die Inspektion oft aus unterschiedlichen Blickwinkeln erfolgt, müssen für die Bildauswertung spezifische Edge-Cases berücksichtigt werden. Ein Stopfen, der in einem Winkel von 15° erscheint, erfordert beispielsweise andere Regeln als ein Stopfen in 45°-Position.
Solche Inspektionsrezepte zu erstellen, ist aufwendig, da sie laufend gepflegt und angepasst werden müssen – etwa bei neuen Stopfen-Varianten durch Lieferantenwechsel, bei geänderten Toleranzen oder bei abweichenden Farben und Formen. Ob ein bestehendes Rezept weiterhin zuverlässig funktioniert, ist daher nicht immer gewährleistet.
Potenzial durch neuronale Netze
Für genau diese Herausforderungen bietet es sich an, Künstliche Intelligenz einzusetzen. Neuronale Netze können anhand vollständiger Bilddaten-Inputs des Stopfens trainiert werden und sind in der Lage, Defekte über die gesamte Stopfen-Fläche hinweg zu identifizieren, ohne dass zuvor spezifische „Regions of Interest“ (ROI) definiert werden müssen. Ein offensichtlicher Vorteil ist, dass somit Defekte an Stellen erkannt werden können, an denen es mit klassischen Evaluationsmethoden schwierig wäre, ROI festzulegen.
Neuronale Netze zeigen zudem Vorteile bei der Inspektionsqualität, da sie die optische Variabilität verschiedener Vial-Formen, Reflexionen, Schatten und Abweichungen besser verarbeiten können. Voraussetzung dafür ist, dass ein ausreichend großer Trainingsdatensatz zur Verfügung steht. Während klassische Methoden bei neuen Stopfenformaten häufig erfordern, das gesamte Inspektionsrezept grundlegend zu überarbeiten, genügt bei neuronalen Netzen in der Regel ein erneutes Training. Der Aufwand ist dadurch deutlich geringer.
Um einen geeigneten Trainingsdatensatz zur Anomalie-Erkennung zu erstellen, können sowohl zahlreiche konforme als auch einige anomale Produkte direkt aus der laufenden Produktion entnommen werden. Auf diese Weise lässt sich ein praxisnaher und effizienter Trainingsdatensatz gewinnen, der reale Produktionsbedingungen widerspiegelt. Alternativ kann auch ein Testkit erstellt werden. Ein trainiertes Netzwerk weist jedem Bild einen Anomalie-Score zu, der angibt, wie stark ein Bild im Vergleich zum Trainingsdatensatz von der Norm abweicht. Da sich in der Praxis die Gruppen der konformen und anomalen Samples bezüglich ihres Anomalie-Scores überschneiden können, lässt sich zwischen den beiden Gruppen unterscheiden, indem zwischen ihnen ein geeigneter Grenzwert festgelegt wird.
Lösungsansätze für die Vial-Inspektion
Als Maschinenhersteller liegt die Kernkompetenz von Wilco im Bau leistungsstarker automatisierter Inspektionssysteme. Um das Potenzial von KI bestmöglich zu nutzen, hat der Maschinenbauer seine Softwarearchitektur so erweitert, dass sie ermöglicht, neuronale Netze flexibel zu integrieren. Dabei fokussiert er sich auf zwei entscheidende Schritte: präzise Daten durch hochwertige Bildgebung aufzunehmen und trainierte Modelle nahtlos in seine Maschinen für die Echtzeit-Fehlererkennung zu integrieren. Das Training und Evaluieren der Modelle kann mit Tools nach Wahl des pharmazeutischen Herstellers durchgeführt werden. Auf Wunsch begleiten die KI-Spezialisten diesen Prozess, unterstützen beim Test neuer Ansätze und sorgen nach erfolgreichem Training für das zuverlässige Einbetten in die jeweilige Anlage. Auf diese Weise wird robuste Hardware mit flexibler Software verbunden und ein praxisnahes Fundament für KI-gestützte Qualitätskontrolle geschaffen. Ein Beispiel für diese Verbindung von Maschinenbau und flexibler Softwareintegration ist die Vario MTX, die modulare Inspektionsplattform des Maschinenbauers. Mit einem wachsenden Produktportfolio auf Kundenseite und einer Vielzahl an Verpackungsarten, -größen und Rezepturen steigen die Anforderungen an Verarbeitung und Prüfung kontinuierlich. Da keine einzelne Testmethode alle Aspekte zuverlässig abdecken kann, erlauben Kombi-Maschinen mehrere Prüftechnologien gleichzeitig.
Mit der modularen Inspektionsplattform kann eine breite Anzahl von Anwendungsfällen kombiniert werden, wie zum Beispiel:
- AVI, um Partikel und kosmetische Defekte zu identifizieren,
- Restfeuchte in Lyophilisaten mittels Nahinfrarot-Spektroskopie (NIRS) messen,
- nicht-destruktive, deterministische Dichtheitsprüfung mittels Headspace-Analyse (HSA).
Damit wird die modulare Inspektionsplattform zu einer anwendungsspezifischen Lösung, die sich flexibel an die Anforderungen moderner pharmazeutischer Produktion anpassen lässt.
Individualisierter Ansatz und maßgeschneiderte Systeme
Für Hersteller, die ihre Qualitätskontrolle weiterentwickeln möchten, lohnt sich ein genauer Blick auf den Einsatz von Anomalie-Erkennung. Der erste Schritt besteht darin, individuelle Produktionsbedingungen gemeinsam zu analysieren und auf dieser Basis maßgeschneiderte Systeme zu entwickeln, die den jeweiligen Anforderungen entsprechen. So kann die Technologie nicht nur ihr Potenzial entfalten, sondern auch langfristig zum Standardisieren und Steigern der Effizienz in der pharmazeutischen Qualitätskontrolle beitragen.