Dem digitalen Zwilling zum Durchbruch verhelfen
Bilfinger stellt Digitalisierungsstrategie für die Prozessindustrie vor
In Sachen Digitalisierung führt am „Digitalen Zwilling“ kein Weg vorbei. Aber was tun, wenn bestehende Anlagen digitalisiert werden sollen? Um das effizient zu bewerkstelligen, arbeitet man bei Bilfinger an einer KI-Technologie, mit der Anlagendokumente, ausgehend vom Fließbild, digitalisiert werden können.
„Rohrleitungs- und Instrumentierungsdiagramme neu zeichnen – dafür gibt kein Betreiber gerne Geld aus“, benennt Martin Bergmann, Product Manager bei Bilfinger Digital Next, ein Grundproblem bei der Digitalisierung bestehender Anlagen. Dabei ist das R&I-Schema – im englischen Sprachgebrauch das Piping & Instrumentation Diagram, kurz P&ID – der Dreh- und Angelpunkt jeder verfahrenstechnischen Anlage. In ihm werden alle für den Betrieb einer Anlage notwendigen Komponenten wie Apparate, Pumpen, Rohrleitungen, Armaturen und Messinstrumente symbolisch dargestellt und logisch verknüpft. Am P&ID können deshalb auch alle Dokumente, in denen Anlagenkomponenten beschrieben werden, „aufgehängt“ werden.
Wichtig sind diese Dokumente nicht nur für das Engineering – etwa wenn bestehende Anlagen erweitert werden sollen, sondern vor allem auch für Instandhaltungsvorgänge. Werden Anlagenkomponenten wie Pumpen oder Messgeräte ausgetauscht, muss die Dokumentation nachgeführt werden, um beispielsweise später für eine effiziente Ersatzteilbeschaffung etc. zur Verfügung zu stehen. Durch konsequentes Digitalisieren einer Anlage entsteht nach und nach ein virtuelles Anlagenmodell, der sogenannte „Digitale Zwilling“. Und weil die Anlagendokumente dort sehr schnell zur Verfügung stehen, lassen sich Betreiberpflichten beispielsweise mit digitalen Prüfplänen deutlich effizienter erfüllen.
R&I-Schema ist der Dreh- und Angelpunkt
Der erste Schritt auf dem Weg zum digitalen Zwilling besteht deshalb darin, das Rohrleitungs- und Instrumentenfließschema zu digitalisieren. „Bei einem unserer ersten Digitalisierungsprojekte haben wir das wie bisher üblich durch Neuzeichnen gemacht“, erklärt Martin Bergmann: „Dabei wurde schnell klar, dass selbst für einen mittelständischen Betrieb hohe Arbeitskosten entstehen können, ganz zu schweigen vom Zeitaufwand.“ Diese Kosten können zum Killerkriterium für die Digitalisierung von Brownfield-Anlagen werden.
Das Digitalisierungsteam von Bilfinger entschloss sich deshalb, einen ganz anderen Weg zu beschreiten: Künstliche Intelligenz soll dabei helfen, bestehende Dokumente auszuwerten, um daraus automatisch eine digitale Variante des R&I-Schemas zu generieren. Die Idee zum „PID Graph“ war geboren. Die digitale Lösung wird derzeit zur Marktreife entwickelt und soll Ende des Jahres zur Verfügung stehen. Die Software liest ein R&I-Schema beispielsweise als Bilddatei ein und zerlegt diese anschließend in sogenannte Knoten und Kanten. Auf Mustererkennung trainierte neuronale Netze identifizieren die verwendeten Symbole und setzen daraus ein digitales Gesamtbild des Schemas zusammen. Die Software merkt sich außerdem Korrekturen der Nutzer und lernt daraus für weitere Erkennungsvorgänge. „Dadurch lässt sich die Zahl der Einlesefehler in kurzer Zeit minimieren“, berichtet Bergmann.
Die Bedienung von PID Graph ist denkbar einfach: Über eine Web-Oberfläche in Form von Bilddateien, pdf-Dokumenten oder dwg-Files hochgeladene R&I-Schemata wurden von PID Graph analysiert und darin Objekte, Tags und Tabellen identifiziert. Die Daten standen nach kurzer Zeit
als XML-Dateien zur Verfügung. „Wir halten uns dabei an den Dexpi-Standard nach ISO 15926“, erklärt Bergmann. Dexpi mausert sich derzeit zu dem Datenaustausch-Standard für die Prozessindustrie. Getrieben von Branchengrößen wie der BASF, Bayer, Covestro und Evonik und in Zusammenarbeit mit CAE-Anbietern wie Autodesk, Aveva, Hexagon und Siemens, will die Dexpi-Initiative mit ihrem Standard künftig den Datenaustausch in allen Phasen des Lebenszyklus von Chemieanlagen abdecken.
Kosten der Digitalisierung von Fließbildern halbieren
Die Digitalisierung der R&I-Schemata mit PID Graph führt vor allem zu niedrigeren Kosten: Laut Bilfinger sollen diese gegenüber der manuellen Erfassung und dem Neuzeichnen um mindestens 50 % sinken. „Im Extremfall reichen sogar von Hand erstellte Zeichnungen, wie sie von Ingenieuren bei der Verfahrensentwicklung zu Papier gebracht werden. Diese können mit einem Tablet fotografiert und in unser System hochgeladen werden“, verdeutlicht Bergmann. Weil auch Tabellen und andere Dokumente über das virtuelle R&I-Schema in dem System relativ einfach miteinander verknüpft werden können, ist auch ein deutlich größerers Anwendungsspektrum der Software denkbar: „In einem zweiten Schritt wollen wir mit dem System weitere Anlagendokumente verarbeiten“, so Bergmann. Dann könnte beispielsweise ein Vergleich der für ein Objekt vorhandenen Datenblätter Aussagen darüber liefern, ob und was sich in einer Anlage zwischen zwei Zeitpunkten verändert hat.
Der Industriedienstleister will PID Graph künftig einerseits in eigenen Engineering-, Instandhaltungs- und Digitalisierungsprojekten nutzen, andererseits soll das System den Kunden auch als Pay-per-Use-Lösung für die Digitalisierung von Dokumenten zur Verfügung gestellt werden. So können Anlagenbetreiber das System etwa dazu nutzen, um ihre Anlagendokumentation auf den neuesten Stand zu bringen.
„Mit jedem neuen Einlesevorgang lernt das System weiter“, bringt Bergmann einen wichtigen Aspekt der KI-Lösung auf den Punkt. Bedenken hinsichtlich des Schutzes von Unternehmensinterna, die in den Dokumenten stecken können, zerstreut der Digitalisierungsexperte: „Wir haben keinen Zugriff auf die R&I-Schemata der Kunden.“ Und je mehr logische Verknüpfungen das System mit der Zeit aus den verschiedenen eingelesenen R&I-Schemata erkennt, desto interessanter könnte die Softwarelösung auch für Engineeringprozesse werden: „PID Graph könnte künftig Anlagenplaner unterstützen, indem es auf Basis gelernter Zusammenhänge Hinweise auf fehlende Komponenten wie zum Beispiel Sicherheitsventile liefert“, blickt Bergmann in die Zukunft.
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Bilfinger SE
