Pharmazeutische Meilensteine

Warum dauert die Entwicklung von Medikamenten so lang?

Medikamente durchlaufen verschiedene Phasen vom Anfang der Entwicklung bis nach der Zulassung und Markteinführung. Das Erreichen oder Verfehlen solcher Meilensteine erweckt häufig Aufmerksamkeit. Was sind die Zeitfresser und Kostentreiber?

hotspot-klinische-phasen2.jpg

Trotz moderner Technologien, künstlicher Intelligenz und digitaler Laborautomatisierung dauert es im Schnitt zehn bis fünfzehn Jahre, bis aus einem Wirkstoff-Kandidaten ein zugelassenes Medikament wird. Schnelle Durchbrüche wie die Entwicklung von Impfstoffen während der Corona-Pandemie sind Ausnahmen, und erfordern Sonderregelungen und übergreifende Kooperation zwischen Pharmaunternehmen und Zulassungsbehörden. Der Normalfall ist dagegen ein langer, teurer und hochgradig durchregulierter Prozess.

Von der Idee zum Wirkstoff

Am Anfang steht die Forschung, oft mit einer vagen Hypothese, einem Molekül oder einer Zielstruktur im Körper, die Einfluss auf einen Krankheitsprozess haben könnte. Mit Hochdurchsatz-Screening, Robotik und KI-gestützten Analysen werden meist tausende oder zehntausende Substanzen getestet, um potenzielle „Hits“ zu identifizieren. Dabei geht es zunächst nur darum, Stoffe zu identifizieren, die irgendwie biochemisch mit dem Zielmolekül interagieren. Welchen Effekt diese Interaktion haben könnte, ist am Anfang meist völlig unbekannt.

Darum übersteht von diesen theoretischen Kandidaten nur ein winziger die ersten Laborprüfungen. In der präklinischen Phase untersuchen Forscherinnen und Forscher die pharmakologischen Eigenschaften, die Toxizität und das Verhalten der Substanz im Organismus. Dazu dienen in der Regel Zellkulturen und Tiermodelle. Erst wenn eine sichere und stabile Wirkung nachgewiesen ist, darf der Wirkstoff überhaupt am Menschen getestet werden. Trotz technischer Fortschritte dauert diese frühe Phase häufig drei bis sechs Jahre. Dabei muss jedes Experiment reproduzierbar, dokumentiert und regulatorisch belastbar sein.

hotspot-klinische-phasen2.jpg

Die klinische Entwicklung

Mit dem Antrag auf klinische Prüfung beginnt der nächste Teil der Entwicklung. In drei klinischen Phasen wird der Wirkstoff-Kandidat Schritt für Schritt auf Sicherheit und Wirksamkeit getestet.

  • Phase I

Zunächst erhalten rund 20 bis 100 gesunde Freiwillige das Medikament in geringen Dosen. So wird vorsichtig die Sicherheit für den Einsatz im Menschen geprüft und ein sicherer Dosisbereich ermittelt, um in späteren Phasen gefährliche Nebenwirkungen ausschließen zu können.

hotspot-klinische-phasen3.jpg
  • Phase II

Gilt das Mittel als ausreichend sicher, steht es zur eigentlichen Wirkung bei freiwilligen Patienten auf dem Prüfstand. Die Zahl der Testpersonen liegt in der Größenordnung von 100 bis 1.000. Im Vergleich mit einem Placebo wird die Wirksamkeit überprüft. Auch der Effekt in Abhängigkeit von der Dosis sowie die generelle Verträglichkeit werden untersucht.

hotspot-klinische-phasen4.jpg
  • Phase III

In der dritten klinischen Phase wird der Impf- oder Wirkstoff an einer möglichst großen Anzahl freiwilliger Patienten getestet, in der Regel mehreren Tausend. So lassen sich auch seltenere Nebenwirkungen ermitteln und die Wirksamkeit statistisch absichern. Außerdem untermauert diese Phase im Bestfall die Ergebnisse der vorhergehenden Phasen.

Allein die Patientenrekrutierung, die Datenüberwachung und die Auswertung solcher Studien können Jahre in Anspruch nehmen. Hinzu kommen unzählige Anforderungen aus den „Good Clinical Practices“ (GCP): Jede Abweichung, jede Änderung im Protokoll muss geprüft und dokumentiert werden. Die Herstellung des Prüfpräparats unterliegt bereits den strengen Regeln der Good Manufacturing Practice (GMP). Produktionsanlagen, Messgeräte und Prozesse müssen validiert sein – und das schon, wenn es sich nur um wenige Testchargen handelt. Insgesamt beansprucht die klinische Entwicklung meist sechs bis acht Jahre – und ist damit der zeitbestimmende Faktor im gesamten Prozess.

Qualität, Sicherheit, Rückverfolgbarkeit

Was Medikamentenentwicklung zusätzlich so langsam macht, ist nicht nur der Forschungsaufwand, sondern die notwendige Sorgfalt. Jede Charge eines Wirkstoffs, jedes Messgerät und jeder Arbeitsschritt werden qualifiziert, kalibriert und dokumentiert. Diese Detailtiefe ist kein bürokratischer Selbstzweck, sondern zentrale Voraussetzung für die Sicherheit von Patient:innen. Die regulatorischen Behörden – in Europa die EMA, in den USA die FDA – prüfen nicht nur die Studienergebnisse, sondern auch die Qualität der Daten, der Produktion und der Dokumentation.

Für die Verfahrenstechnik bedeutet das: Anlagenplanung, Automation und Qualitätssicherung müssen von Anfang an regulatorisch mitgedacht werden. GMP-konforme Dokumentations- und Herstellungsprozesse sind hierfür eine absolute Notwendigkeit, aber sie sind auch einer der größten Zeitfaktoren.

hotspot-klinische-phasen5.jpg

Ökonomie und Organisation

Der enorme Zeitbedarf ist auch ein Kostenfaktor: Die Kosten für die Entwicklung eines neuen Medikaments kann leicht eine Milliarde Euro übersteigen. Das liegt nicht nur an den Entwicklungskosten des Medikaments selbst, sondern auch Kosten durch all die Wirkstoffkandidaten, die in den verschiedenen Entwicklungsphasen aufgegeben werden mussten und nie den Markt erreichen.

Diese Unsicherheit zwingt forschende Pharmaunternehmen zu enormer Effizienz. Kooperationen mit Auftragsentwicklern (CROs) oder Lohnherstellern (CMOs) sind längst Standard. Gleichzeitig wächst der Aufwand in der Projektsteuerung: Datenmanagement, Lieferkettenkoordination, regulatorische Kommunikation. Neue Technologien helfen, Prozesse zu beschleunigen und Medikamente schneller auf den Markt zu bringen. Dazu gehören Entwicklungen wie modulare Produktionsanlagen, Single-Use-Systeme oder digitale Laborjournale, die GMP-Dokumentation automatisieren.

Eine schnelle Markteinführung ist auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Um wirtschaftliche Interessen zu schützen, werden mögliche Wirkstoffe in der Regel früh im Entwicklungsprozess patentiert. Je früher ein Wirkstoff zugelassen wird, desto länger können die Entwickler vom Patentschutz profitieren und das Medikament exklusiv vermarkten.

Verfahrenstechnische Skalierung: Aus dem Labor in die Produktion

Wenn ein Wirkstoff in Phase II oder III erfolgreich ist, beginnt die Vorbereitung auf die industrielle Herstellung. Gerade bei biotechnologisch hergestellten Medikamenten wie Proteinen oder Antikörpern ist das hochkomplex: Zelllinien müssen stabil kultiviert sowie Fermentationsbedingungen und Aufreinigungsprozesse präzise eingehalten und validiert Die Hochskalierung vom Labormaßstab zur Produktion im Industriemaßstab ist technisch riskant. Kleine Veränderungen, etwa bei Temperatur, pH-Wert oder Durchfluss, können die Produktqualität und damit die Wirksamkeit beeinflussen. Daher muss auch hier jeder Prozessschritt detailliert dokumentiert, reproduzierbar gestaltet und validiert werden, bevor die Marktzulassung erfolgen kann.

Hier treffen Forschung und Anlagenbau direkt aufeinander: Verfahrenstechnische Planung, Prozessautomation und Qualitätssicherung werden integraler Bestandteil der Entwicklung, nicht deren Nachbereitung. Digitale Methoden und KI verändern auch hier die Entwicklung, aber sie lösen die grundsätzliche Herausforderung nicht. Algorithmen können zwar molekulare Strukturen schneller analysieren, Toxizitäten vorhersagen oder klinische Studiendesigns optimieren. Digitale Zwillinge simulieren heute ganze Anlagen und beschleunigen die Validierung von Produktionsprozessen.

Letztendlich muss jedes neue Medikament seine Wirksamkeit und Sicherheit im realen Einsatz belegen – und das braucht Zeit. Unter dem Begriff „vierte klinische Phase“ wird oft die anhaltende Beobachtung und Dokumentation eines Medikaments nach der Zulassung zusammengefasst. In diesem Rahmen werden unter Umständen Langzeitfolgen oder Nebenwirkungen, aber auch Erfolge erfasst, die im Umfang der früheren Prüfung nicht zu erkennen oder nicht vorgesehen waren.

So kann es dazu kommen, dass manche Mittel auch gegen andere Leiden und Krankheiten eingesetzt werden als ursprünglich vorgesehen. Derzeit prominentes Beispiel sind die GLP-1-Rezeptoragonisten, die übergewichtigen Menschen beim Abnehmen helfen, aber ursprünglich als Diabetes-Medikamente entwickelt wurden.

Folgen Sie uns auf Linkedin

Logo von Linkedin

Hygienische Prozesstechnik in Pharma-, Lebensmittel- und Kosmetikindustrie ist Ihr Thema? Dann folgen Sie uns auf Linkedin.