Präzisere Qualitätskontrolle in der Pharmafertigung
Künstliche Intelligenz in der Tabletteninspektion
Künstliche Intelligenz könnte die visuelle Inspektion in der Pharmafertigung revolutionieren: Weg von starren Prüfvorschriften hin zu lernfähigen Algorithmen – das Ergebnis sind höhere Produktqualität, weniger Ausschuss und eingesparte Ressourcen.
Die pharmazeutische Produktion unterliegt strengen Vorschriften. Qualitätssicherung hat oberste Priorität – Patientensicherheit und die Einhaltung regulatorischer Richtlinien gehen vor.
Entsprechend verlangt die Good Manufacturing Practice (GMP) eine lückenlose Dokumentation aller Schritte, um Chargen jederzeit rückverfolgen zu können. Schon kleine Fehler können teure Folgen haben: Nach Schätzungen machen Qualitätsprobleme in vielen Branchen 15–20 % des Jahresumsatzes aus. Für Hersteller von Tabletten, Kapseln und anderen Arzneiformen bedeutet das, dass jedes fehlerhafte Produkt potenziell Gesundheitsrisiken birgt und hohe Kosten durch Ausschuss, Nacharbeit oder Rückrufe verursachen kann. Moderne Kamerasysteme zur 100-%-Inspektion sind daher in der Pharmaproduktion unverzichtbar – doch klassische, regelbasierte Bildverarbeitung stößt hier oft an Grenzen.
Herausforderungen konventioneller Bildverarbeitungssysteme
Traditionelle Inspektionsanlagen arbeiten mit fest programmierten Regeln, beispielsweise Schwellenwerten für Farbe, Form oder Größe von Tabletten. In der Praxis führt das bei variierenden Produkten jedoch häufig zu Problemen. Feine Farbnuancen oder leichte Formabweichungen werden vom starren System fälschlich als Defekte erkannt, obwohl das Produkt in Ordnung ist. Solche False Rejects (Pseudoausschuss) ziehen unnötige Vernichtung einwandfreier Tabletten nach sich – und erfordern aufwendige manuelle Zweitprüfungen. Für Pharmaunternehmen entstehen dadurch jährlich Kosten in Millionenhöhe. Umgekehrt besteht die Gefahr, dass echte Fehler „durchrutschen“, wenn Toleranzen zu großzügig eingestellt sind. Zudem lassen sich klassische Systeme nur mit erheblichem Aufwand aktuell halten: Für jede neue Produktvariante oder veränderte Herstellungsbedingung müssten die Inspektionsregeln neu programmiert oder justiert werden.
Dieses starre Vorgehen ist in komplexen Prozessen kaum praktikabel. Branchenexperten berichten, dass konventionelle Anlagen unter realen Bedingungen oft nur mit großen Verlusten durch hohen Ausschuss betrieben werden können und einen jahrelangen Optimierungsprozess erfordern. Auch in unserem Beispiel eines mittelständischen Pharmabetriebs zeigte sich bald: Trotz anfänglich guter Kalibrierung nahm die Fehlerrate zu. Kleinste Variationen in Farbe oder Form der Tabletten führten vermehrt zu Pseudoausschuss, und bei ungünstiger Beleuchtung wurden Defekte mitunter nicht zuverlässig erkannt. Die Folge waren manuelle Nachkontrollen in großem Umfang, Produktionsverzögerungen und steigende Stückkosten – ein auf Dauer unhaltbarer Zustand.
In traditionellen Inspektionsprozessen müssen Mitarbeiter häufig manuell eingreifen, um fehlerhaft ausgesonderte Produkte zu überprüfen. Solche zeitaufwendigen Routineprüfungen belasten das Personal und limitieren den Durchsatz. KI-basierte Automatisierung kann hier Abhilfe schaffen.
Wechsel zur KI-basierten Inspektion
Angesichts dieser Probleme entschied sich das Pharmaunternehmen, sein Prüfsystem grundlegend zu modernisieren. Künstliche Intelligenz sollte das starre Regelwerk ersetzen. Dazu wurde eine spezialisierte KI-Software an die bestehende Industriekamera angebunden. Anstelle fest programmierter Kriterien nutzt das neue System ein neuronales Netz, das mit Bildern trainiert wurde, zwischen „gut“ und „schlecht“ zu unterscheiden. In einer Lernphase hatte die KI tausende Referenzbilder intakter und fehlerhafter Tabletten analysiert. Dadurch „weiß“ das System, wie Defekte typischerweise aussehen, ohne dass jede Variante von Abplatzung oder Verfärbung einzeln hinterlegt werden muss.
Konkrete Vorteile dieser lernfähigen Bildverarbeitung: Subtile Farbabweichungen oder leichte Bruchkanten führen jetzt nicht mehr automatisch zum Alarm, sondern werden im Kontext bewertet. Unterschiedliche Erscheinungsformen desselben Fehlers erkennt die KI flexibel – sie generalisiert aus den Trainingsdaten, anstatt nur exakt vordefinierte Fehlerbilder zu finden. Selbst Schwankungen in der Beleuchtung beeinträchtigen das Ergebnis weit weniger, weil das Modell in der Trainingsphase diverse Lichtverhältnisse „erlernt“ hat. In Summe konnte so im Praxisprojekt die Zahl falsch positiver Aussortierungen, also irrtümlich als defekt bewertete aber intakte Tabletten, drastisch gesenkt und ebenso das Durchrutschen echter Fehler („false negatives“) nahezu eliminiert werden. Die Fehlerkennungsgenauigkeit stieg auf ein neues Niveau – in Zahlen bedeutete das über 90 % weniger Fehlerkennungen im Vergleich zum alten System. Mit dieser Präzisionssteigerung ging unmittelbar eine höhere Produktivität einher, da die manuelle Inspektion von vermeintlichen Defekten fast komplett entfiel. Dieses Ergebnis ist kein Einzelfall: Fachleute sehen in maschinellem Lernen einen Quantensprung für visuelle Inspektionen – mit deutlich weniger Konfigurationsaufwand, stabilerer Erkennungsleistung und hoher Skalierbarkeit.
Vorteile des KI-gestützten Inspektionssystems
- Höhere Erkennungsgenauigkeit: KI-Systeme entdecken selbst feine Abweichungen und verringern gleichzeitig Fehlalarme. In der Praxis resultiert daraus eine viel effizientere Nutzung der Produktionskapazität, da wirklich nur fehlerhafte Produkte ausgesondert werden.
- Weniger Regelpflege: Aufwendige Nachjustierungen oder Neukalibrierungen entfallen größtenteils. Die KI passt sich durch Training auf neue Bilddaten an veränderte Produkte an, ohne dass Programmierer manuell eingreifen müssen.
- Nahtlose Integration: Moderne KI-Lösungen lassen sich in bestehende Anlagensteuerungen einbinden. Über Schnittstellen (etwa zu MES oder Scada) können erkannte Fehler direkt zurückgemeldet und Produktionslinien nötigenfalls automatisch angehalten werden. Dies ermöglicht eine unmittelbare Reaktion auf Qualitätsprobleme und spart Zeit sowie Ressourcen.
- Lückenlose Dokumentation: Jedes Prüfergebnis wird digital erfasst und mit dem zugehörigen Bild abgespeichert. Für Audits oder eine Rückverfolgung lässt sich somit jederzeit nachweisen, dass nur einwandfreie Ware das Werk verlassen hat – ein entscheidender Vorteil im regulierten Pharmakontext.
All diese Aspekte führen nicht nur zu höherer Produktqualität, sondern wirken sich bereichsübergreifend positiv aus. Qualitätsmanager profitieren von geringerer Reklamationsgefahr und sauberer Dokumentation, die Produktionsleitung verzeichnet weniger Unterbrechungen und Ausschuss und selbst Instandhaltung/IT ziehen Nutzen aus der Lösung, da ein trainierbares No-Code-System den Wartungsaufwand minimiert. Insgesamt steigt die Effizienz der gesamten Wertschöpfungskette, während zugleich die Mitarbeiter von monotonen Kontrolltätigkeiten entlastet werden.
Wirtschaftlichkeit und ROI der KI-Prüfung
Neben den qualitativen Vorteilen ist die Wirtschaftlichkeitsrechnung ein entscheidendes Kriterium. Im beschriebenen Fall wurden die Investitionskosten (Software-Lizenz und Integration an vier Produktionslinien) den erzielten Einsparungen gegenübergestellt. Durch den drastisch reduzierten Pseudoausschuss und wegfallende manuelle Nacharbeiten summierten sich die jährlichen Einsparungen auf rund 180.000 Euro für das gesamte System. Damit amortisierte sich die KI-Investition sehr schnell – bereits nach etwa neun Monaten war der Return on Investment erreicht. Die konkrete Amortisationszeit kann je nach Branche variieren, doch das Beispiel verdeutlicht das enorme Potenzial der Technologie: KI-basierte Inspektionssysteme erweisen sich nicht nur qualitativ, sondern auch ökonomisch als lohnend.
Skalierbarkeit und Zukunft der Qualitätskontrolle
Die beschriebenen Verbesserungen bei der Tabletteninspektion sind erst der Anfang. Ein großer Vorteil KI-gestützter Systeme liegt in ihrer Skalierbarkeit. Hat sich die Lösung in einem Produktionsbereich bewährt, lässt sie sich mit minimalem Zusatzaufwand auf weitere Linien, Produkte oder sogar andere Anwendungsfelder übertragen. Neue Defektbilder können einfach durch zusätzliches Training integriert werden, ohne dass starre Regeln neu geschrieben werden müssen. In Zukunft ist es denkbar, dass vergleichbare KI-Systeme auch manuelle Tätigkeiten unterstützen – etwa bei Verpackungskontrollen oder der Werkerführung in Echtzeit. Die Flexibilität solcher selbstlernenden Systeme macht sie für viele Industriezweige attraktiv, denn das Grundproblem – variantenreiche Fehler sicher zu erkennen – stellt sich in Automobilbau, Lebensmittelproduktion, Elektronikfertigung und anderen Branchen genauso. Erste Projekte zeigen, dass die offene Architektur moderner KI-Lösungen eine nahtlose Einbindung in verschiedenste Produktionsumgebungen erlaubt, ob lokal auf vorhandener Hardware oder in der Cloud betrieben. Zudem sind datenschutzrechtliche Hürden beherrschbar, da die Auswertung direkt vor Ort erfolgen kann und keine sensiblen Produktionsdaten das Werk verlassen müssen.
Nicht zuletzt gewinnt die Entlastung des Personals an Bedeutung. In Zeiten von Fachkräftemangel ist es entscheidend, qualifizierte Mitarbeiter von monotonen Routineprüfungen zu befreien und für anspruchsvollere Aufgaben einzusetzen. KI-basierte Prüfanlagen übernehmen diese ermüdenden Kontrolltätigkeiten mit gleichbleibender Zuverlässigkeit und ermöglichen es, das Know-how der Fachkräfte effektiver zu nutzen. Die Zukunft der Qualitätsprüfung ist daher zweifellos durch einen höheren Automatisierungsgrad und intelligente Systeme geprägt. Branchenanalysen prognostizieren, dass KI-gestützte Bildverarbeitung die nächste Generation der industriellen Inspektion dominiert – hin zu autonomeren, zuverlässigeren und effizienteren Prozessen. Unternehmen, die früh auf diese Technologien setzen, verschaffen sich einen bedeutenden Vorsprung in puncto Qualität, Kosten und Produktivität.