Entscheider-Facts
- In der Pharmazeutischen Industrie machen vor allem Generikaherstellern die stark gestiegenen Produktionskosten zu schaffen.
- Die Bundesregierung plant ein neues Anreizsysystem, mit dem die Wirkstoffproduktion in der EU gestärkt werden soll.
- Da die Corona-Sonderkonjunktur zu Ende geht, wird der Umsatz der Branche in 2023 sinken.
Fiebersaft ausverkauft, Krebsmedikamente nicht lieferbar – die Schlagzeilen vom Spätherbst 2022 führten der Öffentlichkeit einmal mehr vor Augen, wie abhängig unser Gesundheitssystem von stabilen Lieferketten ist. Doch die Ursache lag nur zum Teil in fehlenden Vorlieferungen aus dem Ausland. Im Fall von Fiebersaft mit dem Wirkstoff Paracetamol gaben wirtschaftliche Gründe den Ausschlag: Für die Novartis-Tochter 1a Pharma beispielsweise lohnte sich die Herstellung schlichtweg nicht mehr – der Hersteller, dessen Marktanteil für Fiebersaft zu Jahresbeginn noch bei fast einem Drittel lag, hatte die Produktion im Mai beendet. Ein gesetzlich seit zehn Jahren fixierter Festbetrag von 1,36 Euro pro Flasche war für den Hersteller angesichts massiv gestiegener Material- und Energiekosten nicht mehr lukrativ genug.
Allen Warnungen zum Trotz hatte die Bundesregierung im Juli 2022 zudem einen Entwurf für ein neues GKV-Finanzstabilisierungsgesetz beschlossen, mit dem den Herstellern nicht einmal Preissteigerungen im Rahmen der Inflation zugestanden wurden. Durch den Herstellerrabatt kommen auf die deutsche Pharmaindustrie in 2023 zusätzliche Belastungen in Höhe von 1,3 Mrd. Euro zu. Darüber hinaus führt die Umsetzung des Erstattungssystems zu einer weiteren Verschärfung des Kostendrucks, was für die Investitionsbereitschaft der Branche nicht förderlich ist.
Die Entwicklung wirft ein Schlaglicht auf die aktuellen Herausforderungen im Pharmamarkt: Insbesondere den Generikaherstellern machen stark gestiegene Produktionskosten zu schaffen. Seit Jahren kritisiert der Herstellerverband Pro Generika, dass die Preispolitik im deutschen Gesundheitssystem dazu führt, dass sich immer mehr Hersteller aus diesem Geschäft zurückziehen. „Wir sind auch in diesem Bereich mit der Ökonomisierung zu weit gegangen“, räumte Gesundheitsminister Karl Lauterbach im Dezember ein.
Anreize für Produktion in Europa
Mit einem Sofortprogamm zur Sicherung der Arzneimittelversorgung will die Bundesregierung Erstattungsbeträge für einzelne Medikamente ab Februar erhöhen. In einem Eckpunktepapier vom 16. Dezember stellt das Bundesgesundheitsministerium nicht nur fest, dass die Zahl der Lieferengpässe bei Arzneimitteln zuletzt deutlich angestiegen ist, sondern dass bei Generika strategische Abhängigkeiten insbesondere von China und Indien bestehen. Um Anreize für europäische Hersteller zu schaffen, sollen nun für Arzneimittel, die für Kinder relevant sind, Festbeträge aufgehoben und das Preismoratorium angepasst werden. Künftig dürfen diese das 1,5-fache des Moratorium-Preises kosten. Gibt es für eine Festbetragsgruppe nur noch wenige Anbieter, kann der Preis ebenfalls auf das 1,5-fache angehoben werden, sobald sich ein Versorgungsengpass abzeichnet.
Ein noch größerer Hebel dürfte jedoch die geplante Standort-Klausel für Rabattverträge sein: Im Rahmen der Rabattvertrags-Ausschreibungen soll für Antibiotika und Krebsmittel neben dem Preis auch ein Zuschlagskriterium „Anteil der Wirkstoffproduktion in der EU“ vergeben werden.
Stress bei Vorprodukten
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? So einfach ist die Lage leider nicht. Denn ein wichtiger Faktor für die Pharmabranche sind Vorlieferungen der chemischen Industrie. Hier drohen bei anhaltend hohen Energiepreisen Probleme, weil immer mehr Chemiebetriebe ihre Produktion drosseln. So ergab eine Mitgliederbefragung des Branchenverbands VCI im November 2022, dass 25 % der Unternehmen bereits Produktionsdrosselungen umgesetzt haben und weitere 14 % entsprechende Maßnahmen planen. 20 % beabsichtigten Aufträge abzulehnen, weil die Produktion unter den aktuellen Rahmenbedingungen nicht rentabel ist. Im Oktober 22 lag die Chemieproduktion 21 % unter Vorjahr. Relevant für die Pharmaindustrie ist dabei der Rückgang bei Fein- und Spezialchemikalien, die Vorprodukte für die Arzneimittelherstellung sind. Der VCI beziffert diesen für 2022 mit -8,5 %. Dazu kommt, dass auch die zuletzt stabiler gewordenen Lieferketten nicht ohne Risiken sind: Das dynamische Infektionssgeschehen in China nach der Lockerung der strikten No-Covid-Regeln könnte Lieferketten erneut strapazieren.
In seiner jüngsten Einschätzung zur Lage verweist der Verband der Forschenden Arzneimittehlersteller vfa darauf, dass die Pharmabranche unter den deutschen Industriezweigen Störungen besser abfedern kann: „Die pharmazeutische Industrie war und ist ... weniger stark von globalen Störungen betroffen, da Vorleistungsbezüge diversifiziert sind und schneller als etwa bei Halbleitern andere Lieferanten gefunden werden können“, stellt Dr. Claus Michelsen, Geschäftsführer Wirtschaftspolitik im vfa in der jüngsten Ausgabe des MacroScope Pharma Economic Policy Briefs fest. Dennoch legte der Verband Ende Januar mit einem eigenen Fünf-Punkte-Plan zur Sicherung der Arzneimittelversorgung nach. Dieser geht sogar über die im Sofortprogramm der Bundesregierung beschriebenen Maßnahmen hinaus. Der vfa empfiehlt darin
- Transparenz über die Lagerbestände und Warenströme von Arzneimittel herzustellen und dazu das bestehende System securpharm zu nutzen.
- Lieferketten systematischen Stresstests zu unterziehen und Hersteller zu honorieren, die ihre Lieferstrukturen gegen Störungen absichern.
- Eine strategische Bevorratung für besonders kritische Wirkstoffe sowie Vor- und Hilfsprodukte einzuführen.
Aus Sicht des Verbands ist die Rückholung von Produktion nach Deutschland nicht zielführend. Vielmehr sollte die Attraktivität für Investitionen in international wettbewerbsfähige Produktionskapazitäten verbessert werden.
Ende der Corona-Sonderkonjunktur in Sicht
2023 wird das Umfeld für die Pharmaindustrie aber nicht nur im Hinblick auf die Beschaffung von Vorprodukten schwieriger werden, sondern die Branche muss sich zudem auf eine Wachstumsdelle einstellen. Vor allem Unternehmen wie Biontech und Moderna, die in den vergangenen Jahren von der Nachfrage nach Covidimpfstoffen und -medikamenten profitiert hatten, drohen dabei Einbußen in der Größenordnung von 50 %. Branchenprimus Pfizer, der gemeinsam mit Biontech den Covid-Impfstoff Comirnaty herstellt und vertreibt, rechnet für 2023 damit, dass der Umsatz von 100,2 Mrd. US-Dollar in 2022 auf 67 bis 71 Mrd. USD sinken wird.
Zudem werden einer Recherche des Marktforschungsunternehmens Evaluate Pharma zufolge in diesem Jahr Arzneimittel mit einem Jahresumsatz von insgesamt 57 Mrd. US-Dollar ihren Patentschutz verlieren. Als Konsequenz wird erwartet, dass die Wachstumsdynamik von 3 % in 2022 auf 1 % in 2023 sinkt, um sich dann in den Folgejahren auf 6 bis 8 % zu normalisieren. Bankanalysten erwarten in 2023 für die führenden 20 Arzneimittelhersteller einen durchschnittlichen Umsatzrückgang von rund 4 %.
Die Unternehmen der Pharmaindustrie suchen aktuell Antworten auf diese Entwicklungen und drehen an der Kostenschraube. Der Darmstädter Merck-Konzern beispielsweise will seine Pharmaforschung effizienter machen und streicht in den USA in einem Forschungszentrum bei Boston kräftig Stellen. Künftig will der Hersteller verstärkt auf Zukäufe und Allianzen setzen, um die Produktpipeline auszubauen. Bayer plant dagegen seine Pharmaaktivitäten stärker auf die USA und China zu konzentrieren und will damit dem Preisdruck in Europa begegnen.
Einen Dämpfer musste bereits im vergangenen Jahr die deutsche Biotech-Industrie am Kapitalmarkt einstecken: 60 % weniger Geld sammelten die Unternehmen der Branche zur Finanzierung ihrer Projekte ein.
Die Börsenwerte der Branchenlieblinge Biontech und Curevac sanken um 37 bzw. 71 %. Auch in den USA hat sich das Wagniskapital für Biotech-Unternehmen in 2022 halbiert.
Dabei haben nicht nur die Biopharmaka-Hersteller noch zahlreiche Pfeile im Köcher. Neben den enormen Potenzialen beispielsweise für neue Krebsmedikamente, setzt die Branche verstärkt auf Digitalisierung und neue digitale Tools. Zahlreiche Unternehmen haben zuletzt in Künstliche Intelligenz investiert: Für Aufsehen sorgte in 2021 ein potenzieller Multimilliarden-Deal des Schweizer Roche-Konzerns mit dem auf Wirkstoffforschung mittels KI-spezialisierten US-Unternehmen Recursion Pharma. Biontech hat im Januar 2023 das britische KI-Start-up Instadeep übernommen und will dessen Technologie in der Entwicklung neuer Impfstoffe und Biopharmaka nutzen. Bayer überrnimmt den KI-Radiologie-Spezialisten Blackford Analysis und will gemeinsam mit der Google-Mutter Alphabet Machine-Learning-Modelle in der Wirkstoffforschung einsetzen.
Fazit: Nach zwei Jahren Corona-Sonderkonjunktur steht der Pharmaindustrie in Deutschland eine harte Landung bevor. Steigende Kosten haben die systembedingten Probleme im deutschen Markt zuletzt dramatisch verschärft. Die Branche steht vor der Rückkehr in ein neues Normal unter deutlich härter gewordenen Randbedingungen.
Liefer- oder Versorgungsengpass?
Mit Blick auf die jüngsten Beschlüsse, mit denen die Bundesregierung die Versorgung mit Arzneimitteln sichern will, ist es wichtig, zwischen Lieferengpässen und Versorgungsengpässen zu unterscheiden. Ein Lieferengpass ist definiert als eine über voraussichtlich zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer Auslieferung im üblichen Umfang oder eine deutlich vermehrte Nachfrage, der nicht angemessen nachgekommen werden kann. Wird ein Lieferengpass gemeldet, prüft das BfArM, ob es sich um ein versorgungsrelevantes Arzneimittel handelt und ob Alternativpräparate zur Verfügung stehen. Auf Basis der Erkenntnisse kann das Gesundheitsministerium einen Versorgungsmangel nach § 79 Abs. 5 AMG feststellen. Dies ist Voraussetzung dafür, dass die Landesbehörden im Einzelfall und befristet von bestehenden Vorgaben des Arzneimittelgesetzes abweichen dürfen. Die Feststellung erfolgt durch eine Bekanntmachung des Bundesministeriums für Gesundheit, die im Bundesanzeiger veröffentlicht wird.