Aspirin, Google und das Rennen um molekulare Präzision
Quantenchemie in der Pharmaforschung
Quantencomputer verändern die Logik der Medikamentenentwicklung. Anhand des Aspirin-Moleküls zeigt sich: Was für klassische Rechner unlösbar bleibt, wird durch neutrale Atome erstmals greifbar.
Die Pharmaindustrie kämpft seit Jahren mit stagnierenden Erfolgsquoten. Trotz Milliardeninvestitionen und KI-gestützter Screening-Verfahren scheitert noch immer der Großteil aller Wirkstoffkandidaten in der klinischen Phase. Eine der Ursachen liegt im Herzen der Forschung: physikalische Modellierung molekularer Prozesse. Was in der Theorie präzise quantenmechanisch beschreibbar wäre, ist in der Praxis kaum berechenbar. Klassische Computer stoßen bei der Simulation komplexer Moleküle wie Aspirin bereits an ihre Grenzen.
Quantencomputer versprechen einen Ausweg: Sie ermöglichen, Elektronenverteilungen, Bindungsenergien und Reaktionspfade direkt zu berechnen – mit weniger Näherungen als in klassischen Verfahren. Eine aktuelle McKinsey-Studie geht davon aus, dass Quantencomputing allein in der Wirkstoffforschung bis 2030 einen wirtschaftlichen Mehrwert von bis zu 50 Mrd. US-Dollar erschließen könnte.
Ein Molekül und unzählige Möglichkeiten
Das Molekül Acetylsalicylsäure, besser bekannt als Aspirin, besteht aus nur 21 Atomen. Doch schon die Vibrationsmoden dieses scheinbar einfachen Moleküls exakt zu berechnen, ist für klassische Supercomputer kaum zu stemmen. Grund ist die exponentiell steigende Rechenkomplexität: Die Zahl der möglichen atomaren Vibrationszustände wächst mit der Zahl der Energieniveaus so schnell, dass konventionelle Rechner mehr als 10 hoch 57, eine Zahl mit 50 Nullen, von Speicherzellen bräuchten – allein für dieses eine Molekül. Zum Vergleich, unser Planet Erde besteht ungefähr aus 10 hoch 50 Atomen.
Für die Pharmaindustrie ist das ein gravierendes Problem, denn Wirkstoffe wie Aspirin interagieren auf atomarer Ebene mit Enzymen oder Rezeptoren. Kleine Änderungen in der Konformation – etwa durch Binden an Wasserstoffbrücken – können über Wirksamkeit oder Nebenwirkungen entscheiden. Klassische Simulationen liefern dafür nur grobe Annäherungen. Quantencomputer können zukünftig – das ist die Hoffnung – die Wellenfunktion eines Moleküls deutlich genauer berechnen als klassische Methoden und so die chemische Reaktivität realistischer vorhersagen.
Neue Impulse für die pharmazeutische Forschung
Viele Wirkstoffkandidaten scheitern nicht an fehlenden Ideen, sondern an molekularer Unschärfe. Ob ein Molekül bindet, toxisch wirkt oder welche Konformation es im Körper annimmt, hängt maßgeblich von seiner elektronischen Struktur, schwachen Wechselwirkungen wie Van-der-Waals-Kräften und Solvatationseffekten ab. Bislang war man gezwungen, diese Effekte zu schätzen, zu interpolieren oder in kostenintensiven Tierversuchen zu verifizieren.
Quantenchemische Simulationen versprechen einen echten Paradigmenwechsel. Sie könnten schon in der Frühphase der Forschung aussichtsreiche Kandidaten selektieren – oder aussortieren – und so Zeit, Geld und Ressourcen sparen. Nicht zuletzt ließen sich damit personalisierte Ansätze auf molekularer Ebene weiterentwickeln: Wirkstoffmodelle, die sich auf individuelle Proteinstrukturen oder Mutationen abstimmen lassen und so personalisierte Medikation auf ein neues Level heben.
Neutrale Atome als technologische Weichenstellung
Um das volle Potenzial quantenchemischer Anwendungen zu erschließen, braucht es eine Hardware-Plattform, die skalierbar, fehlertolerant und langfristig industriell einsetzbar ist. Neutrale Atome gelten dabei als besonders vielversprechender Ansatz. Die Methode nutzt einzelne, elektrisch neutrale Atome, die in optischen Gittern mittels Laserlicht präzise gefangen und kontrolliert werden. Die Vorteile gegenüber anderen Ansätzen: eine hohe Kohärenzzeit, flexible Konnektivität in zwei und drei Dimensionen sowie die Möglichkeit, Tausende Qubits auf engem Raum zu betreiben – und das ohne die Notwendigkeit kryogener Kühlung.
Diese Eigenschaften machen neutrale Atome nicht nur für Grundlagenforschung attraktiv, sondern auch für reale industrielle Rechenaufgaben wie Molekülsimulationen. In Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut wurde kürzlich ein Quantenregister mit über 1.200 Atomen unter kontinuierlichem Nachladen realisiert – das bisher größte seiner Art weltweit. Damit wird eine neue Stufe technologischer Reife erreicht, die den Übergang von Demonstratoren hin zu produktiv nutzbaren Quantenprozessoren ermöglicht. Auch auf globaler Ebene wächst das Interesse an dieser Architektur: Führende Technologieunternehmen wie Google investieren inzwischen Hunderte Millionen in neutrale Atome – ein Zeichen dafür, dass sich dieser Ansatz zunehmend als vielversprechender Weg zur Skalierung etabliert.
Vom Labor in die Wirkstoff-Pipeline
Mit der technischen Plattform wachsen auch die Möglichkeiten. Vor allem die Quantenchemie entwickelt sich zunehmend von einem akademischen Spezialgebiet hin zu einem strategischen Werkzeug in der pharmazeutischen Wirkstoffentwicklung. Während erste Demonstratoren den quantenmechanischen Nachweis erbrachten, werden heute bereits Anwendungen in der präklinischen Forschung erprobt – etwa um potenzielle Wirkstoffstrukturen zu identifizieren, Nebenwirkungen vorherzusagen oder Moleküleigenschaften vor der Synthese zu optimieren.
Ziel ist ein Paradigmenwechsel entlang der gesamten pharmazeutischen Wertschöpfungskette:
In der Hit-Identifizierung können quantenchemische Verfahren künftig dazu beitragen, Wirkstoffkandidaten mit hoher Bindungsaffinität zuverlässiger zu erkennen – auch bei Zielstrukturen, die für klassische Docking-Algorithmen schwer zugänglich sind.
In der Lead-Optimierung ermöglichen quantenchemische Modelle, fundierte Aussagen über die Wirkung chemischer Modifikationen auf zentrale pharmakokinetische Eigenschaften wie Löslichkeit, Stabilität oder Permeabilität zu treffen.
In der Toxikologie könnten künftig quantenmechanische Simulationen eingesetzt werden, um Übergangszustände potenziell reaktiver Metaboliten zu identifizieren – und so toxische Wirkmechanismen früher zu erkennen, lange bevor sie in präklinischen Studien auftreten.
Durch die Kombination mit KI-gestützter Voranalyse, dem sogenannten Pre-Screening, entsteht ein hybrides Modell, bei dem Quantenalgorithmen nur dort eingesetzt werden, wo sie tatsächlich einen Mehrwert bieten – etwa bei Molekülen mit hohem Flexibilitätsgrad oder stark korrelierter Elektronenstruktur. Das senkt die Rechenlast und erhöht die praktische Anwendbarkeit im Laboralltag.
Laut McKinsey ist in den kommenden fünf bis zehn Jahren mit ersten validierten Workflows zu rechnen, die quantenchemische Module in bestehende F&E-Pipelines großer Pharmakonzerne integrieren. Der entscheidende Unterschied: nicht mehr nur vermuten, sondern berechnen – auf atomarer Ebene.
Europa als Wegbereiter fehlt es an Investitionen
Die aktuelle Ausgabe des Quantum Technology Monitor von McKinsey zeigt: Europa spielt im internationalen Wettbewerb um Quantencomputing eine zentrale Rolle. Besonders deutlich wird das bei der Zahl wissenschaftlicher Publikationen und der Forschungsaktivität öffentlicher Einrichtungen. Auch die Gründungsdynamik im Hardwarebereich ist beachtlich – insbesondere im Segment neutraler Atome. Doch trotz dieser technologischen Spezialisierung bleibt ein strukturelles Defizit bestehen: Es fehlt weiterhin an ausreichenden privaten Investitionen, insbesondere im Vergleich zu Nordamerika. Um das volle wirtschaftliche Potenzial zu heben, braucht es daher stärkere Anreize für Wagniskapital und Industriepartnerschaften. Die wissenschaftliche Exzellenz Europas bildet dafür ein solides Fundament – doch für die industrielle Skalierung ist finanzielle Schlagkraft entscheidend.
Noch befinden sich viele Verfahren im experimentellen Stadium. Doch das Zeitfenster zur industriellen Reife schließt sich rapide, sowohl durch Fortschritte auf der Hardware- als auch auf der Algorithmenseite. Pharmaunternehmen, die heute in Pilotprojekte investieren, sichern sich nicht nur technologischen Vorsprung – sie schaffen die Grundlage für eine effizientere, präzisere und letztlich humanere Medikamentenentwicklung.